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Zusammen ist man weniger allein

Zusammen ist man weniger allein

Titel: Zusammen ist man weniger allein
Autoren: Anna Gavalda
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im Winter schlotterte sie. Camille kannte die klimatischen Gegebenheiten in- und auswendig, da sie schon seit über einem Jahr hier wohnte. Sie beklagte sich nicht, dieses schäbige Nest war ihr unverhofft zugefallen, und sie erinnerte sich noch an Pierre Kesslers betretenes Gesicht, als er die Tür zu der Rumpelkammer vor ihr aufstieß und ihr den Schlüssel hinhielt.
    Es war winzig, dreckig, zugestellt und eine glückliche Fügung.
     
    Als er sie eine Woche zuvor auf der Schwelle seiner Wohnungstür empfangen hatte, ausgehungert, verstört und still, hatte Camille Fauque ein paar Nächte auf der Straße hinter sich.
    Er hatte es zunächst mit der Angst bekommen, als er den Schatten auf dem Treppenabsatz sah:
    »Pierre?«
    »Wer sind Sie?«
    »Pierre«, stöhnte die Stimme.
    »Wer sind Sie?«
    Er drückte auf den Lichtschalter, und seine Angst wurde noch größer:
    »Camille? Bist du’s?«
    »Pierre«, schluchzte sie und schob einen kleinen Koffer vor sich her, »ihr müßt das hier für mich aufbewahren. Das sind meine Utensilien, versteht ihr, mir werden sie bestimmt geklaut. Alles wird mir geklaut. Alles, alles … Ich will nicht, daß sie mir meine Utensilien wegnehmen, sonst krepier ich … Versteht ihr? Ich krepiere.«
    Er glaubte, sie phantasiere:
    »Camille! Wovon sprichst du denn? Und wo kommst du her? Komm rein!«
    Mathilde war hinter ihm aufgetaucht, und die junge Frau brach auf dem Fußabtreter zusammen.
     
    Sie zogen sie aus und legten sie in das hintere Zimmer. Pierre Kessler hatte einen Stuhl zu ihr ans Bett gezogen und betrachtete sie beklommen.
    »Schläft sie?«
    »Scheint so.«
    »Was ist passiert?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Sieh nur, in was für einem Zustand sie ist!«
    »Pssst.«
     
    Sie wachte einen Tag später mitten in der Nacht auf und ließ ganz langsam Badewasser einlaufen, um sie nicht zu wecken. Pierre und Mathilde, die nicht schliefen, hielten es für ratsamer, sie in Ruhe zu lassen. Sie ließen sie einige Tage bei sich wohnen, gaben ihr einen Zweitschlüssel und stellten ihr keine Fragen. Dieser Mann und diese Frau waren ein Segen.
     
    Als er ihr vorschlug, sie in einem Dienstmädchenzimmer unterzubringen, das er nach dem Tod seiner Eltern in deren Haus behalten hatte, holte er unter dem Bett den kleinen Koffer im Schottenmuster hervor, der sie zu ihnen geführt hatte:
    »Hier«, sagte er zu ihr.
    Camille schüttelte den Kopf:
    »Ich würde ihn lieber hier lass…«
    »Kommt nicht in Frage«, unterbrach er sie sofort, »den nimmst du mit. Der hat bei uns nichts zu suchen!«
     
    Mathilde begleitete sie zu einem Verbrauchermarkt, half ihr, eine Lampe, eine Matratze, Bettwäsche, ein paar Töpfe, eine Elektroplatte und einen winzigen Kühlschrank auszusuchen.
    »Hast du Geld?« fragte sie, bevor sie sie gehen ließ.
    »Ja.«
    »Meinst du, es wird gehen, Herzchen?«
    »Ja«, wiederholte Camille und hielt die Tränen zurück.
    »Möchtest du unseren Schlüssel behalten?«
    »Nein, nein, es geht schon. Ich … was soll ich sagen … was …«
    Sie heulte.
    »Sag nichts.«
    »Danke?«
    »Ja«, sagte Mathilde und zog sie an sich, »danke, es geht schon, alles in Ordnung.«
     
    Sie schauten ein paar Tage später bei ihr vorbei.
    Das Treppensteigen hatte sie erschöpft, und sie ließen sich auf die Matratze sinken.
    Pierre lachte, behauptete, dies erinnere ihn an seine Jugend, und stimmte »La Bohäää-me« an. Sie tranken aus Plastikbechern Champagner, und Mathilde zauberte aus einer großen Tasche einen Haufen herrlicher Leckereien hervor. Mit Unterstützung des Champagners und ihrer guten Laune trauten sie sich, ein paar Fragen zu stellen. Einige beantwortete sie, die beiden insistierten nicht.
     
    Als sie sich anschickten zu gehen und Mathilde schon ein paar Stufen hinuntergegangen war, drehte sich Pierre Kessler um und packte sie an den Handgelenken:
    »Du mußt arbeiten, Camille … Du mußt jetzt arbeiten.«
    Sie schlug die Augen nieder:
    »Ich habe das Gefühl, in letzter Zeit viel gemacht zu haben. Viel, viel …«
    Er drückte noch fester zu, tat ihr beinahe weh.
    »Das war keine Arbeit, und das weißt du genau!«
    Sie sah auf und hielt seinem Blick stand:
    »Habt ihr mir deshalb geholfen? Um mir das zu sagen?«
    »Nein.«
    Camille zitterte.
    »Nein«, wiederholte er und ließ sie los, »nein. Red nicht solchen Unsinn. Du weißt genau, daß wir dich immer wie eine Tochter behandelt haben.«
    »Verloren oder auserkoren?«
    Er lächelte und fügte hinzu:
    »Arbeite.
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