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Woerter durchfluten die Zeit

Woerter durchfluten die Zeit

Titel: Woerter durchfluten die Zeit
Autoren: Marah Woolf
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Rücken.
    »Was?«, fragte Jules kurze Zeit später, immer noch nach Luft schnappend. »Dein erster Tag im Verlies und du hörst Stimmen?«
    Lucy sah sie verunsichert an. »Schräg, oder?«
    »Das kann man so sagen. Du solltest dringend dafür sorgen, dass du wieder über Tage arbeiten kannst. Schleim dich ein bisschen ein.«
    »Das wird nicht gehen«, unterbrach Lucy sie. »Miss Olive geht bald in den Urlaub.«
    »Das ist doch reine Schikane«, behauptete Jules. »Die können dich nicht mutterseelenallein im Keller lassen. Du musst dich beschweren.«
    »Bei wem denn?«, fragte Lucy.
    Jules zuckte mit den Schultern.
    In dem Moment klingelte es an der Haustür. Lucy und Jules sahen sich an.
    »Kehrt die verlorene Tochter zurück?«, kicherte Jules und stand auf, um die Tür zu öffnen.
    Ein paar Minuten später polterte es.
    »Mädels, ihr müsst mich retten«, tönte Colins Stimme durch den Flur. Ein freudiges Lächeln breitete sich auf Lucys Gesicht aus. Colin war ihr bester Freund. Die beiden kannten sich, seit er sie auf der Grundschule vor drei Rüpeln gerettet hatte, die die Kinder aus dem Heim regelmäßig schikanierten. Die zarte Lucy schien den Jungs ein geeignetes Opfer gewesen zu sein. Als sie begannen, sie herumzuschubsen, tauchte plötzlich der ein Jahr ältere Colin auf und verprügelte zwei der Jungs. Lucy trat dem Dritten kräftig auf den Fuß und schlug ihm dann ihre Bücher über den Kopf. Seit diesem Tag waren Colin und Lucy unzertrennlich.
    Als Colin ein Jahr vor Lucy nach London zum Studium gegangen war, war sie untröstlich gewesen.
    Colin trat in die Küche und grinste Lucy an. Seine blauen Augen und sein zerstrubbeltes blondes Haar strahlten um die Wette.
    »Na, haben sie dich aus deiner WG geschmissen?«, vermutete Lucy. »Oder haben sie sie wegen Unordnung geschlossen?«
    »Weder noch.« Colin schob Lucy auf der schmalen Bank zur Seite und angelte nach ihrem Teller. Mit einem Bissen hatte er ihren restlichen Kuchen verschlungen. »George hat eine neue Freundin, und die wollte mich zwingen zu putzen. Da habe ich erst mal das Weite gesucht.«
    »Und jetzt willst du bei uns unterschlüpfen?«, fragte Jules, die im Türrahmen lehnte und Colin schelmisch angrinste.
    »Ich dachte mir, ihr Mädels habt noch ein Zimmer frei und ihr braucht bestimmt einen starken Mann im Haus«, antwortete er ernsthaft.
    »Wir haben schon Chris«, erinnerte ihn Lucy und rettete ihre Kaffeetasse vor seinen gierigen Händen.
    »Der zählt nicht«, erklärte Colin im Brustton der Überzeugung. »Der wohnt nicht richtig hier.«
      »Aber er kann Regale bauen und Schränke reparieren. Er schleppt unsere Wasserkästen hoch und macht so allerlei andere nützliche Sachen«, widersprach Jules.
    Colin lachte los. »So nützlich kann ich mich gern auch machen!« Er zwinkerte Jules zu und bedachte sie mit einem anzüglichen Blick.
    »Das könnte dir so passen«, sagte Jules und winkte ab. »Kein Bedarf.« Sie setzte sich wieder an ihren Platz. »Von mir aus kannst du bleiben«, murmelte sie. »Wenn die anderen beiden nichts dagegen haben.«
    Colin beugte sich über den Tisch und gab Jules einen Kuss auf die Wange. »Du bist ein Schatz.« Damit stibitzte er auch Jules Kuchenrest und stopfte ihn sich in den Mund.
    »Magst du einen Kaffee?«, fragte Jules resigniert.
    »Wenn du mir einen machst.«
    »Aber nur heute«, erklärte Jules. »Zur Begrüßung.«
    Lucy wusste es besser. Colin hatte so eine unverschämt jungenhafte Art an sich, mit der er jede Frau dazu brachte, sich um ihn zu kümmern. Das funktionierte zuverlässig bei jeder, nur nicht bei ihr. Sie würde keinen Finger für ihn rühren.
    Jetzt legte er einen Arm um sie.
    »Wie war es heute?«, fragte er und sie kuschelte sich an ihn.
    »Ich bin jetzt im Archiv. Ich hab es gerade Jules erzählt.«
    Besorgt sah Colin sie an. »Ist das was Schlimmes?«
    »Es ist im Keller«, mischte Jules sich ein.
    »Es macht mir nichts aus, ehrlich«, versuchte Lucy zu beschwichtigen. »Zwischen den ganzen Büchern komme ich mir nicht mal einsam vor.«
    »Klar, sie reden ja auch mit dir«, fiel Jules ihr ins Wort.
    Colin zog seine Augenbrauen fragend nach oben.
    »Neues Märchen, Prinzessin?«, fragte er. So nannte er sie, seit sie denken konnte. Oder besser gesagt, seit sie ihn gezwungen hatte, gegen Drachen, Stiefmütter oder doofe Prinzen zu kämpfen. Sie war sein Dornröschen, Schneewittchen oder Aschenputtel gewesen.
    Jetzt schüttelte sie den Kopf.
    »Kein Märchen. Es ist …« Sie
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