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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition)
Autoren: Karl-Heinz Ott
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heute getan habe. Madame de Warens war so gütig, mich mit Büchern zu versorgen, und ich war damit beschäftigt, dabei die größtmöglichen Fortschritte zu machen und meine Zeit so einzuteilen, dass dabei nichts für Unnützes blieb. Zu dem Vorwurf, den man mir wegen der Unregelmäßigkeiten meines früheren Verhaltens macht, habe ich nichts zu sagen; so unverzeihlich sie sind, so wenig will ich sie entschuldigen. Ich werde mich vollkommen bessern und hoffe, es möge mir gelingen. Vergessen Sie nicht, mein lieber Vater, wie unendlich ich Madame de Warens verpflichtet bin; durch ihre Barmherzigkeit wurde ich des Öfteren dem Elend entzogen, und sie kümmert sich seit acht Jahren unablässig um all meine Bedürfnisse, auch um solche, die über das Notwendige weit hinausgehen. Deshalb habe ich vor, Madame de Warens anzuflehen, damit einverstanden zu sein, dass ich den Rest meiner Tage bei ihr sein darf, wofür ich ihr bis zum Ende meines Lebens in allem zu Diensten sein werde, was in meiner Macht steht. Ich hoffe, mein lieber Vater, dass Sie meine Entscheidung anerkennen und sie mit ganzer Kraft unterstützen. Damit sind alle Schwierigkeiten beseitigt. Im Übrigen habe ich nicht vor, mir dadurch einen ehrenwerten Vorwand zu verschaffen, um der Faulheit und dem Müßiggang frönen zu können; es stimmt, dass die Leere meiner täglichen Beschäftigungen groß ist. Doch ich habe sie immer voll und ganz den Studien gewidmet.
    Ergebenst, Ihr Jean-Jacques
    Die Tage gehen wieder dahin wie immer. Manchmal hat er Drücken in der Brust, manchmal Herzrasen, manchmal Ohrensausen, manchmal alles zusammen. Meist sitzt er im Garten, manchmal geht er Kräuter sammeln oder blättert in Rameaus Harmonielehre. Als er Voltaires Philosophische Briefe liest, sagt er zu Mama: Ich will wie Voltaire werden. Und als er bei ihm liest, dass Frankreich das einzige Land auf der Welt ist, in dem die Schönen Künste mehr als alles andere geachtet werden, weiß er, dass er nach Paris muss. Noch am gleichen Tag schreibt er Voltaire einen Brief, in dem es heißt: Ich verehre Sie über alles und möchte wie Sie schreiben können.
    Doch es kommt schon wieder eine Krankheit dazwischen. Sie beginnt mit so heftigen Schwindelgefühlen, dass ihm beim Bücken sofort schwarz vor Augen wird, wenn er im Garten zu helfen versucht. Hinzu kommen Herzstechen, Atemnot und Verstopfung. Manchmal deuten sich sogar Ausschläge an, die aber so plötzlich, wie sie kommen, wieder verschwinden, als wollten sie ihn zum Narren halten. Pusteln und Pünktchen, eine einzige Fata Morgana. Immer wenn der Doktor da ist, sind sie sofort wieder weg.
    Mama muss ihm nun alle Medizinbücher besorgen, die es in der Stadt gibt. Von anatomischen Werken bis zu solchen, die sich mit den Affektionen des Gehirns, der Erhitzung des Blutes, mit inneren Geschwüren und Wucherungen, Verdickungen und Verknotungen beschäftigen. Tagein, tagaus blättert Jean-Jacques in den ehrwürdigen Folianten, deren Zeichnungen Entsetzliches erahnen lassen. In allem entdeckt er sich selbst, sein ganzes ungeheuerliches, grenzenloses Leiden. Im Grunde könnte er dem Doktor verkünden: Ich habe alles! Doch er will sich bei seiner nächsten Visite aufs Wesentliche beschränken und ihn lediglich davon überzeugen, dass sich in sein Herz ein Polyp hineingefressen hat.
    Was diesmal zu seinem Erstaunen sogar den Doktor beeindruckt. Und zwar so sehr, dass er sich mit Mama beraten muss. Jean-Jacques kann nicht richtig hören, was die beiden in der Küche miteinander reden, obwohl er die Tür eigens einen Spalt weit aufgelassen hat. Manchmal hört man ein Kichern. Es ist, als würden sie flüstern und sich sogar amüsieren. Dann wieder scheint es dort unten vollkommen still zu sein. Bis schließlich wieder die tiefe Stimme des Doktors zu hören ist und Mama ihm gicksend zuzustimmen scheint. Das Gicksen könnte aber auch ein Seufzen sein. So lange saß Mama mit dem Doktor noch nie zusammen.
    Als die beiden wieder vor sein Bett treten und sehr ernst dreinblicken, würde Jean-Jacques sie am liebsten um Gnade anflehen. Die Sache sei ernst, aber heilbar, beruhigt ihn der Doktor. Und Mama sagt: Du musst dich einer Kur unterziehen. Einer Kur in Montpellier, wo es Spezialisten für so etwas gibt.
    Nur müsse man, erklärt sie, als der Doktor wieder draußen ist, vorher das Geld aus Genf abwarten, den letzten Rest des vom Vater noch nicht verschleuderten Erbes. Und sie schlägt ihrem Kleinen vor, dass er seinen Bruder für tot
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