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Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Titel: Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein
Autoren: Clough Patricia
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nicht jede Frau dazu berufen, auf die Barrikaden zu gehen. Die Menschen sind ein wenig wie Bäume. Als Setzlinge sehen sie alle ziemlich ähnlich aus. Doch wenn sie älter werden, entwickelt jeder eine eigene Persönlichkeit, so wie jeder Baum sich anders herausbildet und sich von den anderen unterschiedet. In psychologischer, physischer und sozialer Hinsicht unterscheiden sich die Menschen immer mehr voneinander, je älter sie werden. Wer sich ernsthaft mit den Problemen alter Menschen auseinandersetzt, stellt fest, dass Verallgemeinerungen kaum greifen.
    Einige Frauen, deren Leben sehr anstrengend war, die vielleicht ihren Beruf oder ihren Chef gehasst haben, wünschen sich möglicherweise nichts weiter als ein wenig Ruhe. Andere haben Verwandte, die sie versorgen müssen. Wieder andere müssen mit ihren eigenen körperlichen Beschwerden zurechtkommen. Einigen erlegt das Schicksal Prüfungen auf, die kaum zu bewältigen sind. Es gibt viele Frauen, denen es genügt, ihre Enkelkinder zu umsorgen, ihre Häuser und Gärten zu pflegen. Doch es gibt auch genug Frauen, die voller Tatendrang sind und nach einer Aufgabe suchen, die ihr Leben mit neuem Sinn erfüllt.
    Die Frauen, die in diesem Buch vorgestellt werden, zeigen, dass die Möglichkeiten, sich zu engagieren, überraschend vielfältig sind. Egal, wie sie ihr Leben gestalten, sie sperren sich gegen die Vorstellung, dass nichts mehr auf sie warten soll als der Tod. Die späten Jahre sind genauso wertvoll wie all die vorangegangenen – wir wollen das Beste aus ihnen machen.
    Einige der hier vorgestellten Frauen sind Freundinnen von Sissi und mir, ganz »gewöhnliche« Frauen, die, teils ohne besonderen Vorsatz, aus ihren späten Jahren etwas Bemerkenswertes gemacht haben. Andere der in diesem Buch versammelten Lebensläufe sind alles andere als gewöhnlich: Nicht jede Frau gewinnt einen Nobelpreis und kann noch mit hundertdrei darüber parlieren! Doch ihre Geschichten haben alle eins gemeinsam: Sie zeigen, dass das Alter eine äußerst bereichernde, dynamische Phase sein kann, vielleicht sogar der Lebensabschnitt, der uns den größten Lohn für unsere Mühen beschert.

3
NEUANFANG
    Ingrid Weichelt war einundfünfzig, also in Sissis Alter, als sie begann, ein eigenes Leben aufzubauen. Als wir uns einige Jahre später an einem wunderschönenen Frühsommertag in ihrer Heimatstadt Tübingen kennenlernten, erklärte sie: »Ich bin noch nie so glücklich gewesen wie heute.« Ihre Befreiung – denn darum handelte es sich – war nicht das Ergebnis einer impulsiven Entscheidung. Sie hatte lange davon geträumt, sie hatte Pläne geschmiedet und um ihre Freiheit gekämpft.
    Drei Männer standen zwischen Ingrid Weichelt und ihrem Glück. Da war ihr Vater, der sich gegen ihren Wunsch gesperrt hatte, Krankenschwester zu werden. Die einzige Ausbildung, die er zuließ, war der Hauptschulabschluss und eine Haushaltslehre. Schließlich solle sie bald heiraten, meinte er, alles Weitere sei in seinen Augen Geldverschwendung. Allerdings entsprach dies damals den gängigen Vorstellungen in dem kleinen, erzkonservativen, katholischen Dorf in Bayern, in dem Ingrid aufgewachsen ist. Außerdem musste der Vater, Besitzer eines Fliesenfachgeschäfts, elf weitere Kinder durchbringen. Doch ihre Mutter hatte es ihr anders vorgelebt. Ingrids Großeltern hatten darauf bestanden, dass ihre sieben Töchter einen Beruf erlernten. Ihre Mutter war Schneiderin. Und so verstand Ingrid schon früh, dass der Beruf eine gewisse Selbstständigkeit, nicht nur finanzieller Art, mit sich brachte.
    Anfangs sah es jedoch aus, als sollte der Vater mit seinen Vorstellungen recht behalten. Mit neunzehn wurde Ingrid schwanger, mit zwanzig heiratete sie. Trotzdem bestand sie darauf, eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Laborassistentin zu machen. Ihr Mann, ein Großhandelskaufmann, wollte davon nichts wissen. »Ich will nicht, dass du schlauer bist als ich«, meinte er. Damit war alles gesagt. Ingrid war einundzwanzig, als sie sich scheiden ließ, sie versorgte ein kleines Kind und war erneut schwanger.
    Sie absolvierte die Ausbildung zur MTA und arbeitete als Laborassistentin in einem Bundeswehrkrankenhaus. Und als ihr zweiter Ehemann in ihr Leben trat, war sie diejenige, die die schnell wachsende Familie ernährte, während er sich auf seine Laufbahn als Berufsschullehrer
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