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Unglücklich sein (German Edition)

Unglücklich sein (German Edition)

Titel: Unglücklich sein (German Edition)
Autoren: Wilhelm Schmid
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wollte »hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten« und »auf Erden glücklich sein« ( Deutschland. Ein Wintermärchen , 1844). Aber das Diesseits weigert sich hartnäckig, zum Paradies zu werden. Das Ausmaß der Hoffnungen, die Menschen in ihr Glück setzen, definiert die Fallhöhe, die erfahrbar wird, wenn alle Anstrengungen vergeblich sind, individuell und gesellschaftlich. Die Hybris, mithilfe von Wissenschaft und Technik ein dauerhaftes Glück fabrizieren zu wollen, treibt den Gedanken hervor, dass alles menschliche Streben im Grunde nichtig ist. Die historischen Erfahrungen, die mit dem einst so hoffnungsvollen Projekt des Sozialismus zu machen waren, sind grundsätzlich im Kapitalismus wiederholbar, der einen ähnlichen Traum nährt.
    Beim Rückblick künftiger Zeiten auf die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts wird die Verwunderung groß sein: Wie konnten die Menschen in einer Zeit der astronomischen Staatsverschuldungen und irrwitzigen Finanzkrisen so sehr mit ihrem persönlichen Glück beschäftigt sein? Hatten sie keine anderen Sorgen? Aber sie wandten sich dem Glück zu, weil sie andere Sorgen hatten. Sie bestanden darauf, positiv zu denken, weil sie hofften, zumindest ihnen selbst könnte das helfen. Nur wenige dachten positiv über die um sich greifende Globalisierung, etwa dass sie eine Chance sein könnte, gerechtere Verhältnisse in der entstehenden Weltgesellschaft zu realisieren. Eine ganze Epoche musste es damals sehr nötig gehabt haben, positiv zu denken, und zwar im selben Maße, in dem die Verhältnisse ins Negative abglitten. Aufgrund der Aussichtslosigkeit des Unterfangens, eine rein positive Welt herzustellen, steigerte sich vor allem die Rhetorik, die sie beschwor.
    Der Rückzug in die private Nische, ins kleine Glück ist verständlich als vitaler Reflex, um den wachsenden Anforderungen von außen zu entkommen und das bedrückende Unglück fernzuhalten, von dem die Welt voll zu sein scheint: Endlich mal ein bisschen glücklich sein. Wo die Beanspruchung ins Unermessliche wächst, wird die Verweigerung zur verführerischen Alternative. Mit der Sorge um ihre Innerlichkeit formen Menschen sich gleichsam eine Falte, in der sie inmitten einer Zeit, die sich zu überschlagen beginnt, wahrhaft in sich gekehrt leben können. In einer Kultur, die einen ungeheurenSchub der Entwicklung quer durch die Zeit erlebt hat, ist das erstrebte Glück die Erinnerung an eine andere, zeitlose Welt, in der das Leben noch geborgen war, jedenfalls in der Vorstellung.
    Bei der Melancholie geht es jedoch nicht nur um das Erwachen aus dem Traum vom Glück. Die neue Untröstlichkeit rührt von einem sich anbahnenden Verhängnis her, daher gleicht die kommende Epoche der Melancholie keiner früheren. Immer mehr Menschen wird klar, welches Verhängnis in ökologischer Hinsicht droht. Sie sehen es auf sich zukommen wie den fremden Planeten Melancholia , der sich in Lars von Triers gleichnamigem Film von 2011 auf Kollisionskurs zur Erde befindet, Objekt gewordener Alptraum, der Menschen überkommt. Zu lange wurde der blinde Glaube gepflegt, die Folgelasten des modernen Lebens und Wirtschaftens seien beherrschbar. Aber es zeichnet sich ab, dass die jüngeren Generationen mit immer größeren Problemen fertigwerden müssen, die die älteren ihnen hinterlassen, von großen Hoffnungen für die Beglückung der Menschheit keine Spur mehr. Der Herbst kehrt ein auf dem Planeten, dieZeit der großen Trauer. Selbst im Frühling bricht die Melancholie auf, wenn alles grünt und blüht: Wie lange wird das noch so sein? Wie lange werden Menschenaugen dieses Schauspiel noch sehen?
    Die Gründe für die kommende Epoche der Melancholie liegen in der Ahnung von einem möglichen Verschwinden der Menschheit, nicht durch einen Atomblitz oder kosmischen Donnerschlag, sondern durch einen schleichenden und möglicherweise beim besten Willen nicht mehr aufhaltbaren Prozess. Die Fluten werden zusammenstürzen über den Menschen, und sie werden ertrinken in den Dreckmassen, zu Boden gezwungen von der Gewalt der Elemente, die sie selbst freigesetzt haben. Gibt es etwa ein Argument dafür, dass eine Menschheit unbedingt existieren müsste?
    Und dennoch macht es weinen, daran zu denken, dass die Entscheidung darüber nur von einem kleinen Teil der Menschheit gefällt wird, und auch das nur im Halbschlaf, denn Bewusstheit lässt sich dieser Zustand nicht nennen, in dem Menschen wissen können, was zu tun wäre, und es dennoch
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