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Über das Sterben

Über das Sterben

Titel: Über das Sterben
Autoren: Gian Domenico Borasio
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vorsieht, erfreulicherweise verringern.
Geburt und Sterben als Parallelvorgänge
    Es gibt erstaunlich viele Parallelen zwischen Geburt- und Sterbevorgang. Es sind die einzigen Ereignisse, die allen Menschen, ja allen Lebewesen gemeinsam sind. Es sind beides physiologische Vorgänge, für welche die Natur Vorkehrungen getroffen hat, damit sie möglichst gut verlaufen.
Beide laufen in den meisten Fällen am besten ab, wenn sie durch ärztliche Eingriffe möglichst wenig gestört werden.
Und in beiden Vorgängen greift die moderne Medizin zunehmend häufiger, zunehmend invasiver und teilweise zunehmend unnötiger ein. Aber der Reihe nach.
Geburt
    Dass bei Schwangerschaft und Geburt komplizierte biologische Programme mehr oder weniger automatisch ablaufen, ist seit langem bekannt. In den letzten Jahren sind immer mehr molekularbiologische Details über die Embryonalentwicklung erforscht worden. Die faszinierenden biologischen Prozesse, die aus einer mikroskopisch kleinen Eizelle einen hochkomplexen menschlichen Organismus hervorbringen, werden genauestens studiert. Über die Vorgänge bei der Geburt wissen wir ebenfalls sehr viel: Sie wird über bestimmte Hormone gesteuert, die man auch künstlich zuführen kann, um eine überfällige Geburt «einzuleiten». Im Regelfall verläuft eine Geburt nach einem exakt von der Natur vorbereiteten Schema ab, das die Überlebenschancen für Mutter und Kind maximiert. Geübte Hebammen wissen, dass sie in der Regel möglichst wenig eingreifen müssen, damit die Geburt gut verläuft. Ärztliche Eingriffe sind nur in der Minderheit der Fälle nötig. In den Niederlanden, wo über die Hälfte der Geburtenzu Hause ohne ärztliche Beteiligung stattfindet, ist die Säuglingssterblichkeit niedriger als in Italien, dem Land mit der höchsten Kaiserschnittrate Europas.
    Bei einigen Geburten ist eine ärztliche Beteiligung ohne Frage zwingend erforderlich, wie beispielsweise bei Fehlstellung des Kindes, Vorerkrankungen der Mutter usw. Und in einer glücklicherweise sehr geringen Anzahl von Fällen (z.B. Früh- und Mehrlingsgeburten – Letztere entstehen heutzutage wiederum hauptsächlich durch künstliche Befruchtung) ist das ganze Hightech-Instrumentarium der Frühgeborenen- und Intensivmedizin notwendig, um das Überleben und die Gesundheit von Mutter und Kind zu ermöglichen. Hier sind in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht worden, die auch Kindern unter 500 g Geburtsgewicht in vielen Fällen ein Überleben ohne schwere Behinderung ermöglichen.
    Leider hat sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein gewisses Misstrauen gegenüber dem natürlichen Geburtsvorgang entwickelt, das zu einer zunehmenden Medikalisierung von Schwangerschaft und Geburt geführt hat. Der Nutzen von Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft ist zwar grundsätzlich unbestritten. Ob sie allerdings wirklich so häufig sein müssen wie in Deutschland üblich, ist schon umstrittener. Nicht selten verunsichern Zufallsbefunde die werdenden Eltern. Die von Gynäkologen häufig empfohlene Kaiserschnittentbindung hat zu einer zunehmenden Verdrängung der natürlichen Geburt geführt. Deren Wert wurde erst in den letzten Jahren wiederentdeckt, wie unter anderem der Erfolg der immer häufiger anzutreffenden, von Hebammen geführten Geburtshäuser zeigt.
Sterben
    Beim Sterben laufen ebenfalls biologische Programme ab, die wir allerdings erst allmählich beginnen, zu verstehen bzw. wiederzuentdecken. Es ist bezeichnend, dass in der internationalen Klassifizierung der Diagnosen (ICD-10) der natürliche Tod nicht vorkommt. Wenn ein Mensch stirbt, muss dies offensichtlich Folge irgendeiner Krankheit sein. Der Tod aus «Altersschwäche», wie es früher hieß, ist in der modernen Medizin gar nicht mehr vorgesehen. Kein Wunder, dass Ärzte sich bemüßigt fühlen, permanent in die Sterbevorgänge ihrer Patienten einzugreifen: Sie wissen nicht – und haben es in ihrer Ausbildung nie gelernt –, dass es so etwas wie einen natürlichen Sterbeprozess gibt, den man vorbereiten, erkennen und begleiten kann, vor allem aber nicht unnötig stören sollte (siehe Kapitel 6 und 7).
    Die allermeisten Sterbevorgänge (die Schätzungen gehen bis zu 90 Prozent) könnten mit Begleitung von geschulten Hausärzten und gegebenenfalls Hospizhelfern problemlos zu Hause stattfinden. Bei etwa zehn Prozent der Todesfälle ist, wie wir sehen werden, spezialisiertes palliativmedizinisches Wissen notwendig, das in den meisten
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