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Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)

Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)

Titel: Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Georges Flipo
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denn ein Canari?«
    » Ein Canari, das ist eine Mischung aus Pastis, Zitronensirup und Wasser natürlich. Dann hat er irgendwann morgens schon mit Blanc gommé begonnen.«
    Viviane gab zu, dass sie auch Blanc gommé nicht kannte.
    » Umso besser für Sie, das Zeug ist widerlich, Weißwein mit Zitronensirup. Er kam immer betrunkener in den Unterricht. Sie werden mir jetzt sagen, seine Schüler auch… Am Ende konnte von Unterricht gar keine Rede mehr sein. Er leierte Gedichte von Victor Hugo herunter, stammelte, ließ Verse aus. Es hörte ihm ja sowieso niemand zu. Manchmal stellte er sich auf seinen Tisch und die Schüler dann auch, das war noch der beste Moment seines Unterrichts, ein glorreicher Augenblick. Es gab Beschwerden von Eltern, Untersuchungskommissionen, man wollte ihn zur Entziehungskur schicken. Er wollte nicht, er sagte, es sei das Leben, das ihn vergiftete, Sie verstehen. Dann hat er alles aufgegeben.«
    » Das muss Sie schockiert haben, oder?« Viviane stellte diese Frage aus Höflichkeit, fast aus Routine. Sie ahnte schon, wie die Antwort ausfallen würde.
    » Nein, ich war erleichtert. Endlich war ich ihn los, um ehrlich zu sein. Er hat mich sowieso schon seit Jahren nicht mehr angefasst. Ich hatte meinen Job beim Standesamt, die Stadtverwaltung vermietete mir eine Wohnung, meine beiden Jungs und ich, wir kamen sehr gut ohne ihn zurecht. Mit allem.«
    Viviane fragte sich, wie weit dieses » mit allem« wohl ging. Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen, blieb an einem Foto mit Glasrahmen hängen, das an der Wand hing. Ein Junge von etwa fünfzehn Jahren, groß, blond, hielt einen jüngeren an der Schulter, der vielleicht zehn war, kohlrabenschwarze Locken und dunklere Haut hatte. Beide hatten den harten Blick ihrer Mutter Patricia Mesneux. Sie hatte ihnen bereits beigebracht, einen solch unnachgiebigen Blick auf das Leben zu haben, und genauso schauten sie wohl auch ihren Vater an, der vor seinem Blanc gommé saß, wenn sie morgens in die Schule gingen.
    » Von wann ist dieses Foto?«
    » Aus der Zeit, als er gegangen ist. Er hat sich nicht einmal von ihnen verabschiedet, auch nicht von mir. Er ist irgendwann abgehauen, humpelnd, nachdem er im Unterricht von seinem Tisch gefallen war.«
    » Und bevor er ging, wie lief das Familienleben da ab?«
    » Wie bei allen, vor der Glotze. Erst schaute er ein paar Sendungen an, dann zog er sich in die Küche zurück, um Gedichte in kleine Hefte zu schreiben. Manchmal kam er und versuchte, uns während einer Sendung welche vorzulesen, in seiner inspirierten Art. Also drehten wir den Ton auf, und er ging wieder. Seine Gedichthefte füllen einen ganzen Karton im Keller.«
    Viviane konnte sich den Anblick gut vorstellen. Pascal Mesneux tat ihr leid. Wahrscheinlich war er bei sich zu Hause ebenso unglücklich wie in der Berufsschule. Worüber sie sich wohl unterhielten? Und wo schlief Pascal, wenn die Glotze ausgeschaltet wurde? Trotzdem bei seiner Frau, oder auf dem Sofa im Wohnzimmer? War der Jüngste von ihm? Hatte er wegen seiner Schüler oder seiner Frau mit dem Trinken begonnen? Wie viele solcher Fälle gab es unter den Lehrern? Über solche Themen hätte sie nur mit dem Toten selbst reden können.
    Patricia schaute unverhohlen auf die Uhr, und die Kommissarin begriff, dass die Unterhaltung sie nicht mehr amüsierte. » Hatte er Feinde?«
    » Nur Feinde, Commissaire, er hasste sie alle, seine Kollegen, seine Nachbarn, seine Familie. Alle, außer Victor Hugo.«
    » Nein, ich meinte umgekehrt, Leute, die ihm etwas antun wollten, ihn hassten?«
    » Ich glaube, da gab es nur mich. Den anderen war er eher egal. Schlimmstenfalls ein Typ, von dem man sich fernhielt.«
    Diese Frau war jetzt von einer furchtbaren Ehrlichkeit, sie machte Angst.
    » Und wissen Sie, wo er sich so herumtrieb?«
    » Ein paar Kollegen erzählten mir, ihn in Paris, in der Nähe der Étoile gesehen zu haben. Er muss dort gewohnt haben, wenn man das ›wohnen‹ nennen kann. Kann ich jetzt zur Arbeit gehen?«
    Die Kommissarin hätte gerne noch mehr Fragen gestellt. Sie hätte mit den unbedeutendsten Dingen, den improvisierten Fragen aufgehört, die sie gerne stellte, um einen Menschen einschätzen zu können. Aber Patricia hatte schon einen schwarzen Ledermantel übergezogen und begleitete die Kommissarin zur Tür, um sie schneller loszuwerden.
    Viviane verließ niemals einen Befragten, ohne nach seiner Handynummer zu fragen und die eigene zu hinterlassen. Die Witwe nahm ihre nur
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