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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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der Bäume. Er fällt auf die Knie, schluchzt, kennt sich selbst nicht. Kenne den Weg, kenne Gott, kenne dich selbst. Ein spöttischer Chor leiert in seinen Gedanken, es tut weh, auf der kalten Erde zu liegen. Ruhiger, besonnener Volmar. Die Eifersucht ist ein Wurm. Richardis wärmt Hildegards Hände und springt auf ihr Geheiß hierhin und dorthin. Er tastet auf der Erde, füllt die Hände mit kleinen scharfen Steinen und ballt sie so hart zu Fäusten, dass der Schmerz beinahe das wahnsinnige Rasen der Gedanken übertönt.
    »Du hast Angst, Volmar«, sagt er zu sich selbst. »Deine Zukunft ist genauso ungewiss wie die ihre.«
    Aber Angst ist auch eine Sünde, wenn man sein Leben Gott geweiht hat. Er steht taumelnd auf, stützt sich auf die Knie.
    Er wäscht die Hände im Infirmarium. Er reibt sie mit fetter Seife ein, um Erde und Blut abzuwaschen. Er bittet den Herrn um Vergebung und überlegt, auf welche Art und Weise er seine Reue zeigen und Buße tun kann. Er überlässt die Kranken einem seiner Brüder. Er kniet in der Kirche, er spricht mit dem Priester. Die Ruhe will sich nicht einfinden. Er hat nie an der Wahrheit in Hildegards Worten gezweifelt. Jetzt weiß er nicht, ob das seine größte Sünde ist. Oder ob der Teufel ihn zum Narren hält und mit Zweifel und alles verschlingender Leere lockt.
 

 

14
      
Die Nacht ist ohne Wolken. Der gespaltene Mond hängt so dicht über den Bäumen, dass es aussieht, als würden die Äste ihn entzweibrechen. Die Dunkelheit ist angefüllt von Atemzügen, Betten, die unter dem Gewicht der Körper knirschen, von Husten und unverständlichen Worten, im Schlaf geflüstert. Hildegard geht hinaus in den Innengarten und legt den Kopf in den Nacken. Sie spricht mit Gott oben in seinem samtenen Himmel, ruhige Worte, die nur Er hören kann. Zwei der Schwestern mussten nach der Vesper mit Fieber und Husten ins Infirmarium verlegt werden. Am schlimmsten hat es die kleine Endlin getroffen, die erst seit dem Herbst bei ihnen ist.
    Am Morgen ist das Kloster in Nebel eingepackt. Obwohl es gewöhnlich die kälteste Zeit des Jahres ist, hat die Natur seit Neujahr den Frühling angekündigt. Der Frost hat seinen Griff von der Erde gelöst. Endlin hat die Nacht nicht überstanden und muss unverzüglich in die Erde. Die Schwestern richten das Leichentuch her. Es muss eng um den Körper genäht werden. Margreth weint als Einzige. Sie hatten Endlin noch nicht wirklich kennenlernen können, aber die stille Margreth, die sonst nie ihre Gefühle zeigt, wird jedes Mal schwach, wenn jemand stirbt.
    In der Frauenklause hat Gott die Hand über sie gehalten. Nur zweimal im Laufe der letzten fünf Jahre mussten sie von einer Schwester Abschied nehmen. Bei den Mönchen stehen deutlich häufiger Begräbnisse an, und obwohl sie mehr als doppelt so viele wie die Frauen sind, ist die Schieflage offensichtlich. Die Schwestern singen am Grab. Der Nebel plättet die Erde, fällt wie Tropfen über den Leichensack und die Kleidung der Schwestern.
    Hildegard hat dem Herrn gelobt zu schweigen, bis Nachricht aus Trier kommt. Sie stellt sich vor, dass Gott ihr kostbares Schweigen entgegennimmt, dass er ihre Stimme in seiner Hand hält und sie begutachtet wie der Goldschmied, wenn er den Preis für Edelsteine festsetzt.
    »Möge meine Stimme zu deiner Ehre walten«, betet sie, »möge Stille sein in meinen Gedanken, dass ich allzeit von deiner Stimme erfüllt werde, möge ich sein wie der Wassertrog der Tiere in der Trockenzeit.«
    Margreth weint für sie alle. Sie weint für die, die tot sind, und für die, die noch leben. Sie weint für ihre eigenen Geheimnisse, und sie kann nicht aufhören, obwohl Hildegard mahnend ihre Hand hebt. Die jüngste Schwester wechselt das Bettstroh in Endlins leerem Bett und verteilt frische Streu auf dem Boden. Es duftet nach Tanne, der Gestank der Krankheit ist bereits vertrieben.
    Erst im Laufe des Abends scheint sich der Nebel zu lichten. Hildegard pustet die Kerze aus, aber sie schläft nicht. In der Nacht prügeln sich Katzen und schreien dabei wie kleine Säuglinge. Kurz vor der Matutin verlässt sie das Bett. Sie sitzt am Tisch im Refektorium und wartet auf ihre Schwestern. Sie wachen auf, bevor die Glocken läuten. Vielleicht ist es eine Gnadengabe des Herrn, dass sie zu dieser Stunde nichts mehr fühlt. Weder Erwartung noch Unruhe oder Freude.
 
    Zur Mittagszeit klopft es heftig an die Pforte der Frauenklause. Richardis springt auf, um zu öffnen, aber Hildegard hält sie
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