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Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis

Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis

Titel: Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
Autoren: Ilona Andrews
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nun auch keine Rolle. Ich nahm den Aktenstapel, der mir am nächsten lag, und hängte vorsichtig die erste Akte in das Register.
    Zwei Stunden später hatte ich die Akten, die auf dem Fußboden und auf den Stühlen verstreut lagen, wieder einsortiert und wollte eben mit den Aktenstapeln auf dem Schreibtisch fortfahren, als mich ein großer brauner Umschlag innehalten ließ. Er lag auf einem Stapel in der Mitte, daher konnte ich meinen Namen erkennen, der mit schwarzem Filzstift in Gregs Handschrift daraufstand.
    Ich stapelte die Akten auf dem Fußboden, zog mir einen Stuhl heran und verteilte den Inhalt des Umschlags auf der nun frei geräumten Schreibtischplatte. Es waren zwei Fotos und ein Brief. Auf dem ersten Foto standen zwei Paare beieinander. Ich erkannte meinen Vater, einen hünenhaften rothaarigen Mann, der einen Arm um die Schultern einer Frau legte, bei der es sich um meine Mutter handeln musste. Manche Kinder bewahren Erinnerungen an ihre verstorbenen Eltern, den Nachhall einer Stimme, einen Duft, ein Bild. Ich aber erinnerte mich überhaupt nicht an meine Mutter, so als hätte es sie nie gegeben. Mein Vater hatte keine Fotos von ihr aufbewahrt – es wäre wohl zu schmerzlich für ihn gewesen –, und ich wusste von ihr nur, was er mir erzählt hatte. Sie sei hübsch gewesen, hatte er gesagt, und habe langes blondes Haar gehabt. Ich sah mir die Frau auf dem Bild genau an. Sie war klein und zierlich. Ihre Gesichtszüge entsprachen ihrem Körperbau: Sie waren wohlgeformt und zart, ohne zerbrechlich zu wirken. Wie sie dort stand, machte sie einen selbstsicheren Eindruck und war sich ganz offenkundig ihrer Macht bewusst. Sie war eine schöne Frau.
    Greg und mein Vater hatten behauptet, dass ich ihr ähnelte, aber so aufmerksam ich ihr Bild auch betrachtete, konnte ich da keine Ähnlichkeit entdecken. Meine Gesichtszüge waren gröber. Mein Mund war größer und ließ sich nicht einmal mit viel Fantasie als »Schmollmund« bezeichnen. Ich hatte zwar ihre Augenfarbe geerbt, ein dunkles Braun, aber meine Augen waren eher mandelförmig. Außerdem war mein Teint eine Spur dunkler. Wenn ich es mit Eyeliner und Mascara ein wenig übertrieb, konnte ich leicht als Zigeunerin durchgehen.
    Doch da war noch mehr: Das Gesicht meiner Mutter hatte eine feminine Schönheit, meines gar nicht, zumindest nicht im direkten Vergleich mit ihrem. Wenn wir nebeneinander in einem Raum voller Menschen gestanden hätten, hätte mich gewiss niemand beachtet. Und wenn mich doch mal ein Mann angesprochen hätte, hätte sie ihn mir mit einem Lächeln abspenstig machen können.
    Von wegen hübsch . Nette Untertreibung, Daddy.
    Andererseits, wenn die gleichen Leute eine von uns beiden dazu hätten auserwählen sollen, einem Fiesling einen kräftigen Tritt gegen die Kniescheibe zu verpassen, hätten sie sich auf jeden Fall für mich entschieden.
    Neben meinen Eltern stand Greg mit einer gut aussehenden Asiatin. Anna. Seine erste Frau. Im Gegensatz zu meinen Eltern standen die beiden ein wenig auseinander, hielten kaum merklich Abstand zueinander. Und Gregs Augen blickten traurig.
    Ich drehte das Foto um und legte es auf den Schreibtisch.
    Auf dem anderen Foto war ich zu sehen. Ich war neun oder zehn Jahre alt und sprang von den Ästen einer großen Pappel in einen See. Ich hatte nicht gewusst, dass er dieses Foto besaß, hatte nicht einmal gewusst, dass es geknipst worden war.
    Dann las ich den Brief, ein paar Zeilen auf weißem Papier, Verse von Edmund Spenser:
    » Den liebsten Namen schrieb ich in den Sand,
    Da schwand er mit der Ebbe in der See.
    Und wieder einmal schrieb ich ihn, da schwand
    Er mit der Flut zu meinem tiefen Weh .«
    Darunter waren mit Gregs Blut vier Worte geschrieben:
    Amehe
    Tervan
    Senehe
    Ud
    Die Worte loderten rot. Mich packte ein Krampf. Meine Lunge wurde zusammengepresst, der Raum verschwamm vor meinen Augen, und das Pochen meines Herzens klang in meinen Ohren laut wie Glockengeläut. Kräfte wirbelten um mich herum, hüllten mich in ein Gewirr aus Strömungen. Ich griff danach, und sie trugen mich fort, tief hinein in ein Gemisch aus Licht und Laut. Das Licht durchdrang mich und erstrahlte in meinem Geist, jagte Myriaden Funken über meine Haut. Das Blut in meinen Adern glomm wie geschmolzenes Metall.
    Verloren. Verloren in diesem Wirbel aus Licht.
    Mein Mund öffnete sich, rang darum, ein Wort von sich zu geben. Doch es wollte nicht, und ich dachte schon, ich würde sterben, und dann sagte ich es doch, steckte
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