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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman
Autoren: Juli Zeh
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selten sprach, den Spitznamen >Marionette< eingetragen. Kaum jemand kannte ihren richtigen Namen, aber jeder wusste, dass sie Höfi mit wenigen Worten in die Schranken gewiesen hatte. Man ließ sie in Ruhe. Gelegentlich mischte sie sich grob ins Gespräch. Was für eine Rolle spielt es, ob Amelie das gewollt hat. Wenn wirklich jemand den Fahrradkeller für eine Party bräuchte, würde er ihn bekommen. Selbstverständlich wird Schröder wiedergewählt.
    Die scheißt auf alles. Knapper ließ sich die Persönlichkeit der Neuen nicht in Worte fassen. Anerkennung schwang in dieser Wendung mit und wenig Sympathie. Man wusste nicht recht. Die Prinzessinnen aller Stufen hielten sich von ihr fern und sortierten sich auf dem Raucherhof so lange um, bis keine von ihnen Ada im Rücken hatte. Genau wie auf ihrer alten Schule stand Ada umgeben von einem Haufen Leute, die sie nicht das Geringste angingen, und spürte genau, dass alles beim Alten geblieben war. Es war albern gewesen, etwas anderes zu erwarten.
    Denken heißt Beschreiten. Ernst-Bloch und das Prinzip Hoffnung
    B ald nach Adas Neuanfang fand auf Ernst-Bloch die Hundertjahrfeier statt. In der hochgewölbten Aula trafen sich fast tausend Personen, Schüler, Lehrer, Internatspersonal, Schulträger, Ehemalige und Mitglieder des Fördervereins. Das Licht von der gewaltigen Glasrosette über dem Eingangsportal stand schräg zwischen den kathedralen Mauern, fleckte Rücken und Schultern mit bunten Reflexen und umgab die Versammlung mit einer Aura von Andacht und Abendmahl. Man saß hüstelnd beieinander wie die Gemeinde im Gottesdienst. Der Namensgeber der Schule hatte einmal geäußert: Die Fälschung unterscheidet sich vom Original dadurch, dass sie echter wirkt.
    Ein bisschen Unterstufe strich im Quartett, der Schulchor jazzte ein beherztes Geburtstagslied, zwei Schüler der dreizehnten Klasse spielten Beckett in freier Interpretation. Danach wurde dem dienstjüngsten Lehrer die Ehre zuteil, die Festtagsrede halten zu müssen. Groß und schlank kam er nach vorn aufs Podest, in feines Anzugschwarz gehüllt wie ein Konfirmand. Er zog den Kopf ein, um hinter dem Rednerpult nicht ganz so hünenhaft zu wirken, lächelte den Schülern zu, die umzingelt von Lehrern auf den mittleren Stuhlreihen saßen wie Schafe zwischen Schäferhunden, und strich sich mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht.
    Ada saß in den unbeliebten vorderen Reihen, die immer als letzte von Nachzüglern und Außenseitern besetzt wurden, tuschelte mit niemandem und sah steil von unten zum Redner hinauf. In ihm erkannte sie einen der ersten Menschen, die ihr auf den Fluren von Ernst-Bloch begegnet waren. Noch vor den Sommerferien, unmittelbar nach ihrem Vorstellungsgespräch im Direktorenzimmer, war dieser Mann ihr in Begleitung von Höfi auf der Plexiglasbrücke entgegengekommen, die Altbau und Neubau miteinander verband und von den Schülern >Lufttunnel< genannt wurde. Ihre Mutter hatte mit ihm zu schäkern versucht, und Ada hatte sich dafür geschämt. Sie erinnerte sich daran, wie er sich vorgestellt hatte: Smutek, Deutsch und Sport. Er sprach mit einem leichten Akzent, den sie nicht zuordnen konnte.
    Seine Rede war in Hexametern verfasst und raffte hundert Jahre Schulgeschichte in zwanzig Minuten zusammen. Die Sprösslinge der Gründer-Familie, Enkel und Urenkel des alten Wolfram Gründer, saßen in erster Reihe und trugen das Lächeln stolzer Eltern zur Schau. Sie entstammten einer Industriellenfamilie, die mit der Zuckerherstellung ein so großes Vermögen angehäuft hatte, dass sich der alte Wolfram im Jahr 1902 einen Kinderwunsch erfüllen und eine Schule gründen konnte, auf die er selbst gern gegangen wäre. Smutek dankte dem lang verstorbenen Übervater für diese Idee, nannte die Nachfahren >Zuckerpüppchen<, weil es ins Versmaß passte, und erntete anhaltendes Gelächter aus den hinteren Reihen.
    Nachdem einige ehemalige Schüler zu Nazizeiten für zweifelhaften Ruhm gesorgt hatten, erfolgte einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die Umbenennung des GründerGymnasiums. Der neue Namensgeber, hieß es, sei beim Festakt unter dem Motto >Denken heißt Überschreiten< persönlich zugegen gewesen, wofür es allerdings keine Belege gab. Ernst-Bloch erhielt die staatliche Anerkennung, verblieb aber in privater Trägerschaft. Die Erbfolge der Gründer-Dynastie war bislang ungebrochen. Der amtierende Urenkel war ein spätes Kind, erst sechsundvierzig Jahre alt und nach Meinung der meisten Beteiligten
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