Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Späte Familie

Späte Familie

Titel: Späte Familie
Autoren: Zeruya Shalev
Vom Netzwerk:
steinigen Erde dringen an unser Ohr, und inder Stille zwischen den Spatenstichen schärfen sich unsere Sinne, bis auch die kleinsten Geräusche wahrzunehmen sind, das Rascheln von Papiertaschentüchern, die über tränennasse Augen fahren, das Schlucken staubiger Spucke, das leise Knistern wehender Haare, und über allem der Geruch der feuchten Erde. So hat sie in ihrem Garten gearbeitet, nicht weit von hier, und ich erinnere mich, wie ich einmal Gili dort abgeholt habe und sie im Garten traf, nachdenklich auf einen Spaten gestützt, der genauso aussah wie die Spaten, die jetzt ihre Totengräber benutzen, sie trug eine kurze rote Hose und ein dünnes Hemd und sah aus wie ein junges Mädchen, ihre Schenkel waren mit Erde bedeckt, schau doch, was ich gepflanzt habe, sagte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn, einen Kirschbaum. Ihr kleiner Sohn sprang um sie herum, schwankend, als wäre er betrunken, und sie packte ihn und küsste ihn auf den Mund und sagte, wenn Jonathan groß ist, werden schon Kirschen am Baum hängen, er wird sie pflücken und essen können, und als wir im Garten Limonade tranken, ging das Tor auf, ihr Mann kam herein und sie wandte ihm das Gesicht zu, wie schön, dass du früher kommst, und er hob den Kleinen hoch und küsste ihn ebenfalls auf den Mund, auf dem noch der Geschmack ihrer Lippen lag, und jetzt schaut er uns an, ihr kleiner Sohn, der sich auf den Schultern seines Vaters windet und den Ernst des Kaddisch mit vergnügten Jauchzern unterbricht, und ich höre plötzlich die Stimme seines großen Bruders, Ronen, der versucht, gemeinsam mit seinem Vater den geheimnisvollen Text zu lesen, stockend und verhalten, als müsste er in der Klasse vortragen, und seine dünne Stimme erinnert mich für einen Moment an die Stimme Gilis, an die Stimme Jotams, so werden auch sie eines Tages dastehen, vor einem Erdhügel, und den Kaddisch für ihre Mütter sprechen.
    Von unserem Platz kann ich den Kleinen deutlich sehen, der auf den Schultern seines Vaters sitzt und von der ganzen Gemeinde getragen zu werden scheint, von Hunderten von Schultern, wie ein Bräutigam am Hochzeitstag, seine Augen, die so hell sind wie die seiner Mutter, strahlen vor Vergnügen, während er die vielen Leute betrachtet, sein Lächeln wird breiter, als sei er sicher, dass sich alle Anwesenden nur versammelt haben, um ihm eine Freude zu machen, und beim Anblick des kleinen Jungen, der gestern seine Mutter verloren hat, fangen wir alle erneut an zu weinen, und er schaut sich erstaunt um und fragt langsam und zögernd, als wären es seine ersten Worte, Papa, warum weinen alle? Die Antwort seines Vaters höre ich schon nicht mehr, schwere Seufzer und das Heulen des Windes übertönen seine Stimme, und ich wische mir die Augen, schaue mich um, von Minute zu Minute werden wir uns ähnlicher, unsere Augen werden rot wie die Augen von Schmetterlingen, unsere Haare gelblich, die Zungen kleben an unseren Gaumen, als wären wir alle an einer Massenausgrabung beteiligt und würden uns erbarmungslos unter die Stadt graben, schaut, gelbe Milch fällt vom Himmel auf die Erde, der immer stärker werdende Wind ist schwer von Sand und Samen, ein elektrisch aufgeladener Wind, voller Lavastaub, der in der Luft schwebt.
    Von weitem sehe ich einen großen Mann, der seine Sonnenbrille von den hellen Augen nimmt und mir zunickt, auch als ich ihn das erste Mal sah, war er von Staub bedeckt, bei wie vielen Beerdigungen sind wir schon zusammen gewesen, Amnon, wie viele Tote haben wir zu ihrer letzten Ruhestätte geleitet, und ich habe das Gefühl, als würde mir seine Anwesenheit unter den Trauergästen eine Art geheimer Sicherheit verleihen, wie damals, als er durch das Ausgrabungsareal schritt, nun sind wir wieder zusammen, wennauch mitten unter Hunderten von Menschen, begleiten wir einer den anderen von weitem durchs Leben. Am nächsten Sonntag sollen wir uns im Rabbinat treffen, um die Scheidung endgültig zu vollziehen, vor drei ernsten Rabbinern werden wir stehen, wie jene, die Keren nun begraben und um Gnade für ihre Seele beten, so werde ich von dir den Scheidungsbrief empfangen, ich werde mit gesenktem Kopf zwischen den Wänden des Raumes gehen, von feindseligen Blicken begleitet, lange weiße Bärte werden über schwarze Roben hängen, geschieden, geschieden, werden sie sagen, nicht mehr geheiligt.
    Keren hat die Freitage
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher