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Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Titel: Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)
Autoren: Holger Witzel
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ich verstehe sogar, dass man sich gegenüber schwer bewaffneten Analphabeten aus dem Westen nicht mit Erbsenpistolen lächerlich machen darf.
    Später im Bett fängt Kevin noch mal von der Pumpgun an: Es ist offenbar nicht irgendeine, sondern eine »M3.000« mit »1,3 Joule«. Ich erkläre erneut, was ich über die Gefahren von Anscheinswaffen gelesen habe und suche dann verzweifelt Absolution bei Justin. Gut, sage ich, wir vertrauen dir. Es folgt eine strenge Belehrung über Mädchen und Alkohol. Und wenn es gar nicht anders geht: Hauptsache, ihre Eltern stammen nicht aus dem Westen! Dafür bekomme ich immerhin einen Gute-Nacht-Kuss, aber starre an diesem Abend trotzdem noch lange an die eigene Schlafzimmerdecke.
    Eigentlich müsste man Finn-Oles Eltern anzeigen – Vernachlässigung, Waffengesetz, irgendwas in der Art. Aber sein Vater ist Anwalt ... Wir könnten unseren Kindern solchen Umgang ganz verbieten, aber sie sollen ja irgendwann ihren eigenen Weg aus dem Ost-West-Konflikt finden … Es hilft alles nichts. Wir müssen nachrüsten. 1,3 Joule, besser mehr. Ob es die Dinger wohl auch als Kalaschnikow gibt?

»Anpassung ist die Stärke der Schwachen.«
    Wolfgang Herbst
     

How does it feel
     
    Vor 46 Jahren schrieb Bob Dylan mit Like A Rolling Stone seine Hymne zum sozialen Abstieg. Seit es auch mit dem Westen nur noch bergab geht, summt der Osten leise mit. Ein Ohrwurm.
     
    Zu den niederträchtigsten Unterstellungen an DDR-Lebensläufe gehört die Legende, alle hätten dort Die Puhdys gehört, polnische Schlager vielleicht noch und ansonsten nur sowjetische Marschmusik. Dabei passte der Leiersound ostdeutscher Kassettenrekorder auch besonders gut zur Stimme von Bob Dylan. Lange dachte ich sogar, er und seine Mundharmonika klängen nur so, weil wir die Lieder zu oft überspielt hätten. Fast war ich 1990 ein wenig enttäuscht, dass sich der amerikanische Sänger auch im Original anhörte wie auf einem ORWO-Tonband der Konsumgüterproduktion. Aber während um mich herum viele ähnliche Träume zerplatzten – zum Beispiel der vom ewigen Leben einer BASF-Kassette  –, erschloss sich mir endlich auch eines seiner berühmtesten Lieder. Like a Rolling Stone kam mir vorher immer seltsam gehässig, ja vergleichsweise unpoetisch vor. Inzwischen klingt es mir häufig in den Ohren, wenn Westdeutsche jammern, dass bei ihnen früher alles besser war. Also ziemlich oft. Eigentlich ständig.
    »How does it feel« summe ich, wenn in Stuttgart Polizeiknüppel tanzen und die Menschen offenbar erst nach 60 Jahren begreifen, dass Demokratie noch lange nicht »Wir sind das Volk« heißt. »But now you realize« – wir haben das anfangs auch verwechselt.
    Wie fühlt sich das an, wenn ein System am Ende ist, aber sich von Halbjahr zu Halbjahr noch ein wenig Aufschub kauft – wie seinerzeit Honecker mit den Milliardenkrediten von Franz Josef Strauß? »How does it feel«, wenn alle wissen, dass es so eigentlich nicht mehr weitergeht, aber die Mehrheit in ihren Bauspar-Nischen trotzdem so tut, als ob?
    »How does it feel«, wenn Google oder Facebook mehr über jeden Einzelnen wissen, als die Stasi je ahnte? Wenn die Politik das zwar ein bisschen bedenklich findet, aber Strafverfolger im Zweifel auf jeden Klick Zugriff haben oder mit ihren Spitzelprogrammen gleich selbst mitlesen?
    Wie fühlt sich das an – zurück in der Zukunft, Ende der Achtziger, DDR?
    Je öfter ich das Lied höre, desto mehr bewundere ich den prophetischen Songschreiber, der es extra für Westdeutsche geschrieben haben muss. Allein dieser fiese, märchenhafte Anfang: »Once upon a time you dressed so fine / You threw the bums a dime / In your prime, / Didn’t you?« Spielt er damit nicht eindeutig auf die fetten Jahre nach dem Krieg und die überheblichen Almosen für die armen Landsleute im Osten an? Auf den Zufall, eine Zeitlang auf der scheinbar besseren Seite gelebt zu haben, und die vielen guten Ratschläge, wie man richtig arbeitetet oder mit Geld umgeht?
    »To be on your own / With no direction home / Like a complete unknown / Like a rolling stone.« So hat sich das vor 20 Jahren für Millionen Ostdeutsche angefühlt. Viele rollen immer noch, aber haben sich inzwischen daran gewöhnt, dass bei ihnen kein Moos mehr ansetzt. Wozu auch? Für die Bank? Für die Katz? Die Leihsklavenfirma? Wenn sie jetzt mal leise zurückfragen, ist das keine reine Schadenfreude, im Gegenteil: »How does it feel« hat aus ihrem Mund auch etwas Tröstliches. Die
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