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Rotglut

Rotglut

Titel: Rotglut
Autoren: Liliane u Rist Biggi Skalecki
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Der erste Brief stammt von 1941, der letzte von 1945.
    Seit dem Beginn des Prozesses in Israel um Adolf Eichmann verfolgt der Junge alle Nachrichten aufmerksam. Die Namen der Konzentrationslager sind ihm seit ein paar Monaten geläufig. Natzweiler-Struthof gehört dazu.
    Was hat sein Vater dort zu suchen gehabt? Er als Wehrmachtsoffizier, als Nachschubführer in Lothringen. Stolz hat sein Vater ihm erzählt, wie vielen Kameraden er dort aus dem Schlamassel geholfen hatte. Dass er sich nie wirklich mit dem Nazi-Regime identifiziert hatte.
    Der Junge stößt den Koffer mit dem Fuß an. Ein großer brauner Umschlag lugt darunter hervor. Vorsichtig öffnet der Junge ihn, als fürchte er sich davor, dessen Inhalt kennenzulernen. Ein offizielles Schreiben steckt darin. Er überfliegt es: SS-Obersturmbannführer Martin Gottfried Weiß ernennt SS-Hauptsturmführer Alwin Reddersen zum Schutzhaftlagerführer des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof, datiert 2. Februar 1941. Wer, um alles in der Welt, ist Alwin Reddersen und warum hat sein Vater dieses Schreiben aufbewahrt?
    Seine Hand greift noch einmal in den Umschlag. Sie zieht einen alten Ausweis hervor. Bräunliches Papier, die Unterschrift Himmlers auf der rechten Seite springt ihm ins Auge. Noch verarbeitet sein Gehirn nicht, was seine Augen sehen:
    Schutzstaffel der NSDAP, Ausweisnummer, ausgestellt auf Alwin Reddersen, geboren am 4. Februar 1904. Das Foto auf dem Ausweis zeigt eindeutig seinen Vater.
    Das Bild seines Vaters, das er bisher in seinem Herzen getragen hat, zerbricht in 1.000 Stücke. Die Welt scheint stillzustehen. Jetzt ist es an der Zeit zu schreien.

11. Dezember 1974, Bremen
    Nur noch fünf Stunden. Dann wird er im Flugzeug sitzen, das ihn in seine neue Heimat bringt, wo er die Chance hat, noch einmal ein neues Leben zu beginnen. Es tut ihm nicht leid. Zumindest nicht um seine Ehe, seine alte Heimat, Freunde oder womöglich um seinen Job. Den einzig bitteren Preis, den er wirklich bezahlen muss, ist die Trennung von seiner kleinen Tochter. Er ist nicht sentimental oder gläubig und religiös schon gar nicht. Trotzdem. Weihnachten steht vor der Tür.
    Seitdem die Kleine auf der Welt ist, genießt er die Festtage mit ihr. Sein letztes Weihnachtsgeschenk für sie wird der Spielwarenladen kurz vor dem Fest ausliefern. Lange hat er vor den Regalen gestanden und nach einem geeigneten Geschenk Ausschau gehalten. Sein Blick war schließlich auf eine nostalgische Puppenstube gefallen, riesig und ganz aus Holz. Sechs Miniaturzimmer, fein möbliert mit Biedermeiermöbelchen. Die Küche mit kleinen Delfter Kacheln hinter dem Herd, den man sogar mit den Fingerspitzen öffnen konnte. Die Wäsche auf den kleinen Bettchen war mit echter Spitze besetzt. Passende Bewohner gab es auch dazu: Vater, Mutter, ein Dienstmädchen, ein kleiner Foxterrier und das kleine Mädchen, knapp drei Zentimeter groß, mit einer winzigen blauen Schleife im Haar.
    Schluss damit. Jetzt ist keine Zeit für traurige Gedanken. Er muss schauen, dass er es hinter sich bringt und seine Spuren perfekt verwischt, denn er befürchtet – nein er ist sich sicher –, dass man nun auch ihn im Visier hat und er auf der Abschussliste steht. Im wahrsten Sinne des Wortes. Nur gut, dass er schon länger vorgesorgt hat, falls etwas passieren sollte und er verschwinden muss.
    Die Zeit kriecht dahin, immer wieder sieht er auf die große Uhr, die über der Anzeigetafel hängt. Noch drei Stunden. Hoffentlich geht alles glatt.
    Ein letzter Blick in seinen Pass, in dem seine Bordkarte steckt. Beste Wertarbeit. Yves Renard, langsam spricht er den Namen vor sich hin, genießt den Klang. Ein guter Name. Der Fuchs. Der Mann hält sich selbst für so schlau wie dieses Tier. Yves Renard ist geboren am 22. November 1941. Das Französisch des Mannes ist fließend und absolut akzentfrei, ebenso sein Englisch. Ein weiterer Blick auf die großen schwarzen Zeiger. Noch eine knappe Stunde bis zum Abflug.
    Er verfügt über genügend Geld. Dass dafür ein Mensch sein Leben lassen musste, beeindruckt ihn nicht sehr. Das Schicksal anderer ist ihm völlig gleichgültig.
    Da hatte er schon fast mehr Mitleid mit dem Penner gehabt. Mit Bedacht hatte er sich den Obdachlosen herausgesucht, der ihm am meisten heruntergekommen erschienen war. Er kennt die Brücke über der Kurfürstenallee, unter die sich die Männer, geschützt vor der Kälte durch Zeitungen und Pappe, zurückziehen. Glückliche besitzen einen Schlafsack.
    Im
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