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Rätselhafte Umarmung

Rätselhafte Umarmung

Titel: Rätselhafte Umarmung
Autoren: Tami Hoag
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Dienstmädchen.«
    »Manchmal glaubt sie, ich sei ihr Butler«, flüsterte Bryan. Er neigte den Kopf zur Seite, so daß Rachel ihn verstehen konnte.
    Aber Rachel hörte ihm nicht zu. Zum ersten Mal seit fünf Jahren sah sie ihre Mutter. Wann war Addie so gealtert? Die schöne, lebhafte Frau, an die sich Rachel erinnerte, war verblasst wie eine Fotografie in der Sonne. Ihr Haar war silbern geworden. Die Energie, die Addie immer ausgestrahlt hatte, war verglüht. Sie sah kleiner aus, und ihr immer noch schönes Gesicht - auf das sie so stolz gewesen war - war von tiefen Falten gezeichnet. Während der Zeit, in der sie sich nicht gesehen hatten, war aus Addie eine alte Frau geworden. Plötzlich kamen Rachel die fünf Jahre, die vergangen waren, noch mehr verschwendet vor.
    Als sie so von Addie angestarrt wurde, fühlte sich Rachel plötzlich wie damals mit sechzehn, als sie einmal zu spät nach Hause gekommen war. Hundert Ängste und Befürchtungen schössen ihr durch den Kopf. Wie würde Addie auf ihre Ankunft reagieren? Schließlich hatte Dr. Moore und nicht Addie mit ihr Verbindung aufgenommen. Addie sprach mit ihr ja nicht einmal am Telefon. Wie würde sie ihre Mutter jetzt empfangen, wo sie in Fleisch und Blut vor ihr stand?
    Glaub nicht, du könntest irgendwann wieder heimkommen, wenn du mit diesem billigen Musikanten durchbrennst, Rachel Lindquist. Wenn du jetzt gehst, wenn du mir nicht gehorchst, dann habe ich keine Tochter mehr.
    Die Drohung klang ihr in den Ohren, als hätte ihre Mutter sie erst gestern ausgesprochen.
    Addies Blick heftete sich auf die hübsche junge Frau, die unten in der Halle neben Hennessy stand. Erst regte sich überhaupt nichts in ihrem Gedächtnis, aber als sie Stufe um Stufe herunterkam, begann es in ihrem Kopf zu arbeiten. Ein Angstschauer überlief sie, als ihr klarwurde, daß sie diese Frau kennen müsste, aber nicht einordnen konnte. Das Gefühl hielt höchstens zwei Sekunden an, aber es war so intensiv, daß es ihr alle Kraft raubte und sie auf der untersten Stufe innehalten musste . Aber dann traf die Erkenntnis sie so unvermittelt, daß ihr fast der Atem stockte.
    »Rachel«, sagte sie. Ihre hellblauen Augen waren weit aufgerissen. Sie lächelte nicht und eilte auch nicht auf ihre Tochter zu, sondern blieb wie angewurzelt stehen. Wenn sie sich dieser Vision näherte, dann würde sie sich möglicherweise in Luft auflösen. Wenn sie ganz ruhig blieb, konnte sie dieses Bild gierig in sich aufnehmen und hoffen, daß ihr Gedächtnis es behalten würde.
    Rachel. Mein Gott, wann war sie zur Frau geworden? Sie war wunderschön. Es machte keinen Unterschied, daß sie in den verblassten Jeans und dem lila Sweatshirt, das ihr bis auf die schlanken Schenkel hing, wie eine billige Zigeunerin aussah; sie war wunderschön.
    Ihre Tochter, das Kind, das sie verloren geglaubt hatte, stand nun als Frau vor ihr. Die Gefühle überschlugen sich in ihr; Freude und Reue und Zorn wirbelten in ihrem Kopf durcheinander und verwirrten sie. Hilflos wartete sie auf der Treppe und flüsterte den Namen ihrer Tochter. »Rachel.«
    Rachel zitterte und blieb wie angewurzelt stehen. Am liebsten wäre sie losgerannt und hätte ihre Mutter in die Arme geschlossen, aber so etwas tat eine Lindquist nicht. Die Lindquists hatten sich nie in der Öffentlichkeit umarmt oder geküsst oder »vulgär« ihre Gefühle zur Schau gestellt. Statt dessen versuchte sie, ihre Ängste zu verdrängen und sagte einfach: »Mutter.«
    Es war ein schlichtes Wort, das vielschichtige Gefühle ausdrückte. Soviel stand zwischen ihnen, so viel Vergangenes, so viele Erinnerungen, soviel Schmerz. Rachel presste sich die Hand auf das klopfende Herz. Seit sie Dr. Moores Anruf erhalten hatte, hatte sie kaum an etwas anderes als an ihre Mutter und daran gedacht, wie sie beide mit dieser Situation umgehen würden. Erst jetzt merkte sie, daß sie sich dabei kein einziges Mal eingestanden hatte, welche Hoffnungen sie in diesen Augenblick gesetzt hatte.
    Bryan verfolgte interessiert die Begegnung von Mutter und Tochter. Was für eine Familie war denn das? Seine Mutter wäre ihm in die Arme geflogen, sobald er durch die Tür getreten wäre. Addie und Rachel dagegen starrten einander an, als stünde eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen
    Vielleicht war genau das der Fall.
    Addies Blick war wachsam, fast abwehrend. Rachel schien sich eher zu fürchten als zu freuen. War ihr aufgefallen, daß der Blick ihrer Mutter eine Sekunde lang vollkommen leer
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