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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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schluckte ich. »Wussten Sie das? Es ist Ihre Schuld. Sie sind vielleicht nicht mehr als ein kranker alter Mann, aber das ändert nichts an der Schuldfrage.«
    Ich schluckte: »Was sollte das ausgeschnittene Zitat, das Sie mir geschickt haben? War das auch Plato? Was soll überhaupt diese ganze Philosophiererei?«
    »Wie kann ein neunjähriges Kind solche Bücher lesen und verstehen?«, schluckte ich. »Wie konnten Sie ihm sagen, Sie wären nur da, um zu fragen, wenn alles, was er brauchte, Antworten waren? Sie, Sie haben mir meinen Sohn weggenommen, uns unseren Sohn weggenommen, und Lotta ihren einzigen Freund. Und der Welt ein Kind, das die Welt gebraucht hätte. Sie wussten, was er tun wollte. Sie wussten es. Sie wussten, dass es unmöglich ist, einem Auto auf der Autobahn rechtzeitig auszuweichen. Sie haben ihm gesagt, dass er mutig ist. Wie wahnsinnig muss man sein, um ein Kind in den Tod laufen zu lassen, ganz allein?«
    Als ich all diese Worte hinuntergeschluckt hatte, statt sie zu sagen, war der Hass in mir groß genug. Ich hob das Gewehr und zielte. Ich hatte mehrere Schüsse, ich musste nicht mit dem ersten treffen, der Alte dort auf der Bank wäre wohl kaum schnell genug, um mir zu entkommen, und wenn ich ihn ein paar Mal traf, von mir aus – es war mir egal, ob er litt. Nur einen letzten, allerletzten Schuss musste ich übrig behalten.
    Ich spannte den Hahn und ließ ihn los.
    Der Schuss war sehr laut.
    Alle Vögel im Wald flatterten auf, alle Tiere flohen, alle Bäume schienen erschrocken ihr junges Laub zu schütteln. Ich sah die Kugel als reine Bewegung. Sie zischte durch die Luft und traf den alten Mann im Rücken. Ich brauchte wohl doch nicht noch einmal zu schießen.
    Er schrie nicht.
    Ich wartete, dass er vornüberkippen würde, aber er saß wohl so, dass er nicht kippen konnte, denn er blieb sitzen, völlig reglos. Und dann kam mir ein seltsamer Gedanke. War Rosekast schon tot gewesen, als ich den Garten betreten hatte? Saß auf der Bank nur noch sein Körper, eine leere Hülle, die man nicht mehr erschießen konnte? War er einfach gestorben, ehe ich mich hatte rächen können?
    Ich lud nach, nur zur Sicherheit, packte das Gewehr sehr fest und trat näher. Ging um die Bank herum.

    Rosekast hatte kein Gesicht.
    Oder nur ein vereinfachtes Symbol von einem Gesicht, eine grobe Nase, wulstige Augenbrauen, eine vorgewölbte Stirn. Der Mann mit der alten Jacke, der da auf der Bank saß, war aus Holz. Er war Teil der Bank. Das Ganze war ein geschnitztes Kunstwerk. Ein Werk dessen, der einmal in diesem Haus gewohnt hatte, ehe die Jahreszeiten und die Tiere des Waldes begonnen hatten, es zu vernichten.
    Rosekast. Hatte. Nie. Existiert.
    Es war David gewesen – oder Lotta –, die den Namen auf das verblasste alte Klingelschild gemalt hatten.
    Die Bezugsperson meines Sohnes, der Mensch, zu dem er gegangen war, wenn er einen Zuhörer brauchte, war eine Erfindung von ihm selbst. Ich hatte mich in meinen Bildern versteckt, Claas sich in der Klinik, und David hatte sich einen anderen Zuhörer geschaffen. David war immer schon dafür gewesen, die Dinge selbst zu schaffen – genau wie das Paradies.
    Ich stand lange Zeit ganz still vor der Holzfigur. Dann strich ich langsam eine der hölzernen Hände entlang, die David und Lotta in einen Jackenärmel gesteckt hatten. Eine Vogelscheuche war er, der große alte Philosoph, ich war die ganze Zeit über eifersüchtig auf eine Vogelscheuche gewesen!
    Ich wollte lachen, aber es war nicht lustig.
    Denn wer – wer war nun schuld an allem?
    Langsam, nach und nach, begriff ich die Zusammenhänge, während ich da stand und nicht lachte.
    Ich begriff die Beerdigung zu Beginn der Geschichte und die Rolle, die sie spielte – gespielt haben musste. Der Mann, den sie da beerdigt hatten, war der gewesen, der hier gewohnt hatte. David hatte nicht aus purem Zufall – und was für ein Zufall das gewesen wäre! – das Haus eines Philosophen im Wald gefunden, als er über Siddharta und das Paradies nachgedacht hatte. Er war mit voller Absicht hierhergekommen, zu einem Haus, von dem er wusste, dass es leer stand. Jemand musste ihm und Lotta bei der Beerdigung erzählt haben, wo es sich befand.
    Und es war ihr Zufluchtsort geworden.
    Die Gespräche, die David aufgeschrieben hatte, hatten nur in seinem Kopf stattgefunden, oder jedenfalls Rosekasts Antworten. Besser gesagt – seine Fragen.
    Plato: Gorgias  … mit wem hatte Plato denn seinen Gorgias sprechen lassen? Und

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