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O du Mörderische

Titel: O du Mörderische
Autoren: dtv
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vermochte. Zumindest waren Fred und ich zu diesem Schluß gekommen. Aber
     an der Beziehung war vielleicht doch mehr dran, wenn sie sich mit ihm auf so etwas einließ.
    »Das Rosedale Center ist auf der anderen Seite der Stadt«, erklärte ich beruhigend. »Du wirst keine Menschenseele treffen,
     die du kennst. Außerdem, was soll’s. Du tust ein gutes Werk.«
    »Findest du?«
    »Das weiß ich. Denk doch nur an all die Kinder, die du glücklich machen wirst.«
    |8| »Das stimmt.« Mary Alice sah auf die Uhr. »Ich muß los. Ich wollte dich nur an die Galerieeröffnung heute abend erinnern.
     Man kann zwischen fünf und acht vorbeischauen, und ich werde nicht vor sechs mit der Arbeit fertig sein, so daß ich dich frühestens
     um sieben Uhr abholen komme. Okay?«
    »Warum treffen wir uns nicht dort?«
    »So wie du fährst? Sei nicht albern. Und zieh den Pulli an, den ich dir letztes Weihnachten geschenkt habe, den eierschalfarbenen
     mit den Perlen drauf.«
    »Und welchen Rock darf ich anziehen?« Mary Alice ist immun gegen Sarkasmus, was für eine Schwester sowohl ein Segen als auch
     ein Fluch sein kann.
    »Den eierschalfarbenen natürlich. Und komm um Himmels willen nicht in diesen Schuhen an, die angeblich ›winterweiß‹ sind.
     Ich kann’s nicht glauben, daß du dich so für dumm hast verkaufen lassen.«
    »Dumm bleibt eben dumm, da helfen keine Pillen«, sagte ich und mußte wieder grinsen.
    »Also, dann bis sieben.« Mrs.   Santa Claus griff sich im Hinausgehen ein weiteres Muffin.
    Von wegen sieben. Sie würde mich früher wiedersehen, als sie dachte. Ich war nämlich im Rosedale-Center zum Mittagessen verabredet.
    Als ich in der Bridge-Kolumne an der Stelle angekommen war, wo Omar Sharif sein unglaubliches Sechs-sans-Atout-Gebot abgab,
     bei dem man zwölf von dreizehn möglichen Stichen macht, warf ich mir etwas über, um meinen alten Woofer spazierenzuführen.
     Es war ein wundervoller Morgen, frisch, aber nicht kalt, und obwohl es bis Weihnachten nur noch drei Wochen waren, blühten
     noch immer ein paar rosafarbene Geranien in ihren Töpfen auf der Terrasse. Woofer schlief morgens lange. Im Jahr zuvor hatte
     ich ein Vermögen für eine wärmeisolierte Hundehütte ausgegeben, die wie ein |9| Iglu aussah, aber das war sinnvoll investiertes Geld gewesen. Das Problem war, Woofer dort herauszubekommen.
    Ich hob die Klappe hoch und stupste ihn an. »Hey, du Faulpelz.«
    Er kam heraus, streckte sich, blickte mich ein wenig belemmert an, weil ich mich so an ihn herangeschlichen hatte, und roch
     so richtig nach warmem Hund.
    »Zeit zum Spazierengehen«, sagte ich, strich ihm über den Kopf und stellte dabei fest, wie grau er wurde. Tja, wurden wir
     das nicht alle? Ich legte ihm die Leine an, und dann machten wir uns auf den Weg.
    Unser Viertel ist alt, mit Veranden zur Straße hin und Gehsteigen. Es gibt hier eine Redensart: »An einem klaren Tag kann
     man den Vollmond sehen.« Das bezieht sich auf die riesige Statue von Vulcanus, dem Gott der Schmiedekunst, die vor etwa hundert
     Jahren als Symbol für Birminghams Stahl- und Eisenindustrie oben auf dem Red Mountain aufgestellt wurde. Er ist recht ansehnlich,
     ich habe nichts gegen den großen Eisenmann. Touristen besteigen ihn, wie sie es mit einem Leuchtturm machen würden, da man
     von dort einen herrlichen Blick über die Stadt hat, und sie kaufen Postkarten und Souvenirs. Die Postkarten zeigen ihn allerdings
     immer von vorne.
    Angesichts seines Handwerks trägt Vulcanus vernünftigerweise eine Schürze. Zum Leidwesen der Bewohner in den drei von Bäumen
     gesäumten Straßen auf der anderen Seite des Berges ist dies jedoch auch schon alles, was er am Leib hat. Solange ich mich
     erinnern kann, sind Petitionen im Umlauf, man möge doch das Hinterteil von Vulcanus bedecken. Aber sie bewirken nichts. Falls
     man sich dazu entschließen sollte, ihm eine Wickelschürze anzuziehen, würden wir, wie Mary Alice zu sagen pflegt, die pralle,
     runde Zielscheibe unserer schönsten Witze verlieren.
    Ich wuchs im Lichte dieses Vollmonds auf und machte mir |10| nie Gedanken über ihn, bis ein kleiner Cousin, der aus Atlanta zu Besuch war, auf unserer Veranda stand und ehrfürchtig erklärte:
     »Da drüben steht ein nackter Mann.«
    »Mit einem tollen Arsch«, hatte Mary Alice gesagt. Sie konnte damals kaum älter als zehn gewesen sein.
    Der Mond war heute sehr klar zu sehen. Woofer und ich trotteten gemächlich unter dem strahlendblauen Himmel dahin und
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