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Novemberschnee

Novemberschnee

Titel: Novemberschnee
Autoren: Juergen Banscherus
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ich hier?« Tom grinste. »Ich denke nicht dran. Ihr beide steckt doch unter einer Decke.«
    »Also, was ist jetzt?«, fragte Jurij, ohne auf Toms Gerede einzugehen. »Ich kann nicht mehr stehen.«
    Tom zeigte in den Wald. »Dahinten ist ein See«, sagte er.
    Es war in der Dunkelheit kaum zu erkennen, aber zwischen den Tannen lag tatsächlich ein ziemlich großer See.
    »Und was weiter?«, fragte ich. »Willst du angeln?«
    »Wir kippen den Wagen rein«, sagte Tom. »Dann wird niemand erfahren, dass wir hier in der Gegend sind. Und hinterher suchen wir uns eine Bleibe.«
    »Du spinnst«, sagte ich.
    »Hast du vielleicht eine bessere Idee?«, fragte er.
    »Ja«, antwortete ich. »Wir stellen uns.«
    »Du nervst«, sagte Tom. »Ich geh nicht noch mal in den Knast.«
    Mir schlug es fast die Beine weg. Mit allem hatte ich gerechnet, nur nicht damit. Stimmte schon, ich wusste wenig über ihn. Aber das hatte ich total normal gefunden. Wir waren zusammen, was anderes hatte mich nicht interessiert.
    »Du warst im Knast?«, fragte ich, nachdem ich mich ein bisschen von der Überraschung erholt hatte.
    Tom nickte. »Sechs Wochen Jugendarrest.«
    »Weshalb?«
    »Ich hab einen zusammengeschlagen. Er hat sich mit mir angelegt, wollte wohl rauskriegen, wer von uns beiden der Stärkere ist. Am nächsten Tag hat er mir seine Freunde geschickt. Die haben auch ihr Fett abgekriegt. Einen hab ich am Auge verletzt. Wollte ich nicht, dumme Sache. Er musste ins Krankenhaus. Seine Eltern haben mich angezeigt. Der Richter hat denen geglaubt, nicht mir.«
    »Warum hast du mir das nie erzählt?«
    Tom wischte sich den Schnee aus dem Gesicht. »Weiß nicht«, antwortete er. »Jedenfalls hat der Richter gesagt, dass ich das nächste Mal nicht so billig davonkomme. Aber ich gehe nicht ins Gefängnis. Eher bringe ich mich um. Im Knast kriege ich keine Luft, da hab ich Angst, zu ersticken, da …« Er brach ab.
    »Tom hat Recht. Wir können uns nicht stellen, Lina«, sagte Jurij. »Für Bankraub gibt’s keinen Sozialdienst am Wochenende. Oder ein bisschen Jugendarrest. Da gehst du in den Bau. Mindestens fünf Jahre, schätze ich. Los, hilf uns. Wir müssen den Wagen loswerden.«
    Ich machte keinen Versuch mehr, die beiden umzustimmen. Dazu war ich zu durcheinander. Jurij setzte sich hinters Steuer, Tom und ich schoben das Auto durch den tiefen Schnee zu einem abschüssigen Weg, der am See zu enden schien. Mit einem letzten kräftigen Schwung setzten wir den Wagen in Bewegung. Langsam holperte er bis zur Uferböschung.
    Nachdem Jurij ausgestiegen war, stellten wir uns zu dritt hinter den Mercedes und versuchten ihn ins Wasser zu bugsieren. Es ging wahnsinnig schwer, ich dachte schon, wir schaffen es nicht. Doch endlich kippte die Schnauze des Wagens nach vorne weg, er rollte zwischen ein paar Birken hindurch in den See und versank. Bald war nur noch das Dach zu erkennen. Dann war auch das verschwunden. Ein paar Blasen stiegen auf und zerplatzten.
    Der See war zum Glück tief, offenbar fiel er schon am Ufer steil ab. Was hätte uns die Aktion gebracht, wenn er flach gewesen wäre? Übrigens – ist der Wagen eigentlich gefunden worden? Sie müssten es doch wissen!
    Schweigend trotteten wir zur Straße zurück. Wie lange war es her, seit wir die Hütte verlassen hatten? Sechs Stunden? Sieben? Die Zeit hatte jedenfalls ausgereicht, um uns einander fremd werden zu lassen. Total fremd. Da war nichts mehr von Freundschaft. Da waren nur noch drei Menschen, die irgendwie zusammen klarkommen mussten. Ob sie es wollten oder nicht.
    »Ich kann nicht laufen«, sagte Jurij, als wir wieder auf der Straße standen. »Mein Knie wird immer dicker.«
    »Hast du dein Handy dabei?«, fragte Tom.
    Jurij schüttelte den Kopf.
    »Schade. Sonst hätten wir ein Taxi rufen können.«
    »Und wohin, bitte schön, hätten wir es bestellen sollen?«, fragte ich. »Oder weißt du inzwischen, wo wir sind?«
    Tom gab keine Antwort. Schließlich sagte er: »Vielleicht gibt es hier irgendwo eine Hütte.«
    Die nächste Hütte. Wieder eine Hütte. Aber was anderes fiel mir auch nicht ein. Also liefen wir los. Stapften, einer hinter dem anderen, durch den Schnee. Nach einem Kilometer (oder zweien, ich hatte schon lange jedes Gefühl für Entfernungen verloren) kamen wir zu einem Hinweisschild, das in den Wald zeigte. Landgasthaus Alte Mühle lasen wir im Schein des Zippo und Kalte und warme Küche. Dem Schild hätte ein neuer Anstrich gut getan, überall blätterte die Farbe
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