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Neukölln ist überall (German Edition)

Neukölln ist überall (German Edition)

Titel: Neukölln ist überall (German Edition)
Autoren: Heinz Buschkowsky
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Neukölln von morgen anders aussehen lassen. Zu den Entsetzensschreien von Mama, Papa, Oma und Opa auf die Mitteilung, dass die hippe, billige, verkehrsgünstig gelegene und total coole Studentenbude der Tochter oder des Sohnes in Neukölln liegt, gibt es bereits heute wenig Anlass.
    Also – hier tut sich etwas. Ich hoffe, dass die seit einiger Zeit nach Neukölln drängende junge Kreativszene zum Quartiermacher wird. Was wir brauchen, ist eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur im Stadtteil. Eine Mischung von starken und schwachen Familien, von anspornenden Vorbildern und motiviertem Verantwortungsgefühl, von Erfolgreichen und denen, die noch auf der Suche nach ihrem Erfolg sind. Und was wir auf jeden Fall brauchen, ist eine Überwindung des lähmenden Breis der Bildungsferne. Nur so können wir wieder ein Mehr an Kompetenzen gewinnen: kulturelle Kompetenzen, Bildungskompetenzen, soziale Kompetenzen. Das neue Feeling, die spannende Vielfalt und die offene, tolerante Lebensweise in den Erdgeschossen – sprich: in den Bars, Ateliers und Restaurants der jungen Experimentier- und Kreativwirtschaft – müssen sich in den Wohnebenen darüber verstetigen. Um 23.00 Uhr eintreffende und gegen 3.00 Uhr nach einigen Caipis mit dem Taxi nach Hause fahrende Yuppies bringen uns nicht wirklich weiter. Wir bleiben dann ein Durchlauferhitzer. Eine Art Abenteuer-Episode beim Erwachsenwerden. Wie früher die Kerbe im Revolvergriff, so sind wir dann allenfalls ein Herausstellungsmerkmal im Bewerbergespräch: »Wissen Sie, dass ich drei Jahre in Neukölln gelebt habe? Ich habe es (gut) überstanden, vor Ihnen sitzt ein harter Hund.«
    Die höhere Nachfrage führt unweigerlich zu mehr Begehrlichkeiten bei den Hauseigentümern. Und so kann es schon sein, dass Sie heute für eine Wohnung, die vor drei Jahren noch 3,50 Euro kalt pro Quadratmeter gekostet hat, so um die 7,50 Euro pro Quadratmeter berappen müssen. Da dies im Vergleich mit den in Stuttgart, München oder Hamburg üblichen Mieten immer noch preiswert ist, werden die Forderungen anstandslos erfüllt. Bei der nächsten Neuvermietung wird dann ausprobiert, ob sich die Schraube noch ein bisschen weiter drehen lässt. Da Mieterhöhungen im Regelfall nur bei Neuabschluss des Vertrages greifen, erhöht sich die Miete für Wohnraum so schnell, wie sich die Wohnungen am Markt drehen. Auf Deutsch bedeutet das: Diejenigen, die durch episodenhafte Wohnsitze für starke Mieterfluktuation sorgen und die Gentrifizierung durch Mietsteigerungen beklagen, sind die Gentrifizierer.
    Was wir brauchen, sind junge Menschen, die nach Neukölln ziehen, um hier ihren Familiensitz zu gründen, hier zu leben und zu bleiben. Die ihre Kinder hier zur Schule anmelden und nicht den Wohnsitz der Oma nutzen, um die lieben Kleinen in einem anderen Bezirk anmelden zu können, oder auch gleich ganz wegziehen, sobald der Termin für die Einschulung naht.
    Durchaus gewünschte und erwünschte Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur werden von vielen als Vertreibung und damit als politische Fehlentwicklung zu Lasten der Armen und Schwachen gegeißelt. Ich halte das für falsch. Der Begriff »Gentrifizierung« wurde von einer britischen Soziologin 1964 geprägt und beschreibt Vorgänge, bei denen die Bevölkerung eines Stadtviertels infolge einer neuen städtebaulichen und soziologischen Architektur des Viertels komplett durch eine neue, wohlhabende Bürgerschaft ersetzt wird. Eine Entwicklung, die vornehmlich in den USA um sich gegriffen hatte. Davon kann in Neukölln, aber auch in anderen Stadtteilen Berlins, überhaupt keine Rede sein. Nicht einmal im Prenzlauer Berg, der gemeinhin im Jargon als » SBZ« (schwäbisch besetzte Zone) bezeichnet wird. Worum es geht, ist eine soziale und ethnische Durchmischung, nicht eine Vertreibung. Eine Käseglocke über Hartz- IV -Milieus, Monokulturen der Bildungsferne oder ethnisch entmischte Türken- oder Araberquartiere zu stülpen, hat mit verantwortlicher Stadtpolitik und Zukunftssicherung für seine Bewohner nichts zu tun. Dort, wo derjenige, der seine Miete selbst bezahlt, automatisch im Verdacht steht, ein Gentrifizierer zu sein, ist die Entwicklung schief gelaufen. Ein solidarisches, durch Respekt und Toleranz geprägtes Miteinander setzt eine Mischung von Lebensentwürfen, Lebensphasen und Lebensperspektiven voraus. Dort, wo alles nivelliert ist, werden Aufstiegswillen und Bildungsstreben nicht mehr abverlangt. Man muss sich nur noch unter Gleichen
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