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Nachtpfade

Nachtpfade

Titel: Nachtpfade
Autoren: N Förg
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Weinling
und schepperte wieder los.
    Gerhards Beine fühlten sich an wie Blei. Oder wie in
Gips gegossen. Der Arzt hatte gesagt, er müsse sich schonen. Nun, er ging langsam wie ein Hundertjähriger über den Hof. Im Schongang. Von der Schonung
der Seele hatte der Arzt nichts gesagt. Verdammt, sie hätten das mit Marianne
verhindern müssen! Evi kam ihm aus dem Haus entgegen. In ihren Händen hielt sie
einen Brief.
    »Ich, Marianne Erhard, habe Jacki Paulig
umgebracht. Ich war eifersüchtig. Man musste das tun. Ich bin meim Bruder zum
See gefolkt. Ich habe sie ertrenkt, nachdem er weg war. Alles, was er sagt, ist
die Wahrheit. Mein Bruder ist unschultig. Er kann sowieso keiner Flige was
zuleite tun. Schönberg im November, Marianne Erhard.«
    Ihre Schrift war ordentlich und sehr gerade. Ihre
Rechtschreibung ließ zu wünschen übrig. Es war das Schreiben von jemandem, der
selten zum Stift griff. Der Briefblock mit Röschen-Bordüre war ein wenig
vergilbt, allzu oft hatte man bei Erhards wohl nicht geschrieben.
    »Sie schreibt, dass sie eifersüchtig war. Glaubst du
das?«, fragte Evi schließlich.
    »Nein, aber was nützt die Wahrheit jetzt noch? Sie
wollte ihren Bruder retten. Mehr nicht. Sie wollte auf keinen Fall, dass die
Welt die wirkliche Geschichte erfährt.«
    »Aber dann sind wir letztlich schuld.« Evi klang
gequält. »Wenn das ein Selbstmord war, dann wurde sie doch nur dazu getrieben,
weil wir ihr die Augen geöffnet haben. Weil wir ihr gesagt haben, dass der
Bruder das Mädchen hatte retten wollen, statt es zu ermorden. Dann erst wurde
ihr die grausame Wahrheit bewusst, dass sie zur Mörderin geworden ist. Grundlos
zur Mörderin geworden ist. Dass sie den Bruder gar nicht hätte schützen müssen,
weil es da gar nichts zu schützen gab.«
    »Ja.«
    »Ja? Ist das alles, was du sagen kannst?«
    »Ja, Evi, mehr entdecke ich nicht in mir.«

Kapitel 12
    »Sei nur still und lass es
    seinen Gang gehen. Künstle nicht.«
    Hölderlin, Hyperion
    Gerhard ließ Anton Erhard aus der U-Haft holen. Ihm
war, als hätte er diese Szene schon einmal erlebt. Erhard war gefasst, er
schien über den Tod seiner Schwester nicht überrascht zu sein. Als Gerhard ihm
versicherte, dass ihm das alles sehr leidtäte, sah Erhard kurz auf. Seine Augen
lagen tief in den Höhlen, sein Bart war struppig. »Mir o«, sagte er. Gerhard
ließ ihn gehen, der Mann hatte einiges zu regeln. Es würde eine riesige
Beerdigung geben auf dem Dorf, dessen war sich Gerhard sicher.
    Blieben zwei Fragen: Was sollte er wegen des toten
Kindes unternehmen? Und: War der Miesbacher nun wirklich raus? Beide Fragen
bewegten ihn, rumorten in ihm. Gerhard ging zum WC und wusch sich die Hände, auf denen immer noch kleine Pusteln zu sehen waren.
Er schöpfte sich Wasser ins Gesicht. Er sah beschissen aus. Alt – wie ein Mann
um die vierzig. Er sah so alt aus, wie er war.
    Wieder im Büro, sagte er zu Evi: »Ich bin mal kurz
weg«, und wenig später läutete er bei Baier. Frau Baier öffnete ihm, ihren
Öko-Jute-statt-Mode-Look hatte sie gegen einen Hosenanzug aus Leinen
ausgetauscht. Sie umarmte ihn, und seltsamerweise war ihm das nicht unangenehm.
    »Peter ist im Keller. Warten Sie, nehmen Sie sich
gleich ein paar Dachs mit runter, der Kühlschrank unten geht nicht.«
    Sie lächelte ihn aufmunternd an. Gerhard stieg die
Stufen hinunter in Baiers Reich aus Bierkrügen und kubanischem Rum.
    »Hab Sie erwartet«, sagte Baier.
    Gerhard sah ihn fragend an.
    »Frau Straßgütl hat angerufen.«
    Evi, die kluge Evi, sie kannte ihn gut. »Und hat sie
Ihnen auch gleich gesagt, weshalb ich hier bin?«, lächelte Gerhard.
    »Nein, sie hat mir gesagt, dass ich auf Sie aufpassen
soll, Weinzirl. Weil Sie eigentlich noch ins Bett gehören und ich Sie
anschließend auch in selbiges schicken soll. Frau Straßgütl würde sich um den
ganzen Schreibkram kümmern, lässt sie ausrichten.«
    Baier schenkte das Weißbier ein. Die beiden Männer
stießen an. Er war still, bis auf das Knistern im Holzofen, den Baier
angeworfen hatte.
    »Erhard ist draußen?«, fragte Baier schließlich.
    »Ja.« Dann begann Gerhard zu erzählen von seinem
unbändigen Hass auf Friedl. Dass diese Wut seine Sinne lähmte. Er redete über
Marianne Erhard, von seiner Einschätzung, dass sie den Unfall mit dem kleinen
Bub damals gesehen hatte. Dass sie Jacky beobachtet hatte. Gerhard ging
schonungslos mit sich ins Gericht, vor allem weil er Marianne Erhards
Selbstmord nicht hatte verhindern können. Er
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