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Mit der Reife wird man immer juenger

Mit der Reife wird man immer juenger

Titel: Mit der Reife wird man immer juenger
Autoren: Hermann Hesse
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sind Wiederholungen des mehrmals oder oft Erfahrenen, sind neue Lasuren auf einem längst scheinbar fertigen Gemälde, sie decken über den Bestand an alten Erlebnissen eine neue, dünne Farb- oder Firnisschicht, eine Schicht über zehn, über hundert frühere. Und sie bedeuten dennoch etwas Neues und sind zwar nicht primäre, aber echte Erlebnisse, denn sie werden, unter andrem, jedesmal auch zu Selbstbegegnungen und Selbstprüfungen. Der Mann, der das Meer zum erstenmal sieht oder den Figaro zum erstenmal hört, erlebt anderes und meist Heftigeres als der, der es zum zehnten oder fünfzigsten Male tut. Dieser nämlich hat für Meer und Musik andre, weniger aktive, aber erfahrenere und geschärftere Augen und Ohren, und er nimmt nicht nur den ihm nicht mehr neuen Eindruck anders und differenzierter auf als der andre, sondern es begegnen ihm beim Wieder-Erleben auch die früheren Male, er erfährt nicht nur Meer und Figaro, die schon bekannten, auf neue Weise wieder, sondern er begegnet auch sich selbst, seinem jüngeren Ich, seinen vielen früheren Lebensstufen im Rahmen des Erlebnisses wieder, einerlei ob mit Lächeln, Spott,Überlegenheit, Rührung, Beschämung, Freude oder Reue. Im allgemeinen ist es dem höheren Alter gemäß, daß der Erlebende seinen früheren Erlebensformen und Erlebnissen gegenüber mehr zur Rührung oder Beschämung als zum Gefühl der Überlegenheit neige, und namentlich dem produktiven Menschen, dem Künstler, wird in den letzten Stadien seines Lebens die Wiederbegegnung mit der Potenz, Intensität und Fülle seiner Lebenshöhe nur selten das Gefühl erwecken »o wie schwach und töricht war ich damals!«, sondern im Gegenteil den Wunsch: »O hätte ich noch etwas von der Kraft von damals!« …
    Wir Dichter und Intellektuellen halten sehr viel vom Gedächtnis, es ist unser Kapital, wir leben von ihm – aber wenn uns solch ein Einbruch aus der Unterwelt des Vergessenen und Weggeworfenen überrascht, dann ist stets der Fund, er sei erfreulich oder nicht, von einer Wucht und Macht, die unsern sorgfältig gepflegten Erinnerungen nicht innewohnt. Mir kam zuweilen der Gedanke oder die Vermutung, es könnte der Trieb zum Wandern und Welterobern, der Hunger nach Neuem, noch nicht Gesehenem, nach Reise und Exotik, der den meisten nicht phantasielosen Menschen zumal in der Jugend bekannt ist, auch ein Hunger nach Vergessen sein, nach Wegdrängen des Gewesenen, soweit es uns bedrückt, nach Überdecken erlebter Bilder durch möglichst viele neue Bilder. Die Neigung des Alters dagegen zu festen Gewohnheiten und Wiederholungen zum immer erneuten Aufsuchen derselben Gegenden, Menschen und Situationen wäre dann ein Streben nach Erinnerungsgut, ein nie ermüdendes Bedürfnis, sich des vom Gedächtnis Bewahrten zu versichern, und vielleicht auch ein Wunsch, eine leise Hoffnung, diesen Schatz an Bewahrtem vielleicht noch vermehrt zu sehen, vielleicht eines Tages dieses und jenes Erlebnis,diese und jene Begegnung, dies oder jenes Bild und Gesicht, das vergessen und verloren war, wiederzufinden und dem Bestand an Erinnertem beizufügen. Alle alten Leute sind, auch wenn sie es nicht ahnen, auf der Suche nach dem Vergangenen, dem scheinbar Unwiederbringlichen, das aber nicht unwiederbringlich und nicht unbedingt vergangen ist, denn es kann unter Umständen, zum Beispiel durch die Dichtung, wiedergebracht und dem Vergangensein für immer entrissen werden.
    (Aus der Betrachtung »Engadiner Erlebnisse«, 1953)

    D ie Wahrheit ist ein typisch jugendliches Ideal, die Liebe dagegen eins des reifen Menschen und dessen, der wieder zum Abbau und Sterben bereit zu sein sich bemüht. Bei den Denk-Menschen hört das Schwärmen für die Wahrheit erst dann auf, wenn sie gemerkt haben, daß der Mensch für das Erkennen objektiver Wahrheit außerordentlich schlecht begabt ist, so daß also Wahrheitsuchen nicht die eigentlich humane, menschliche Tätigkeit sein kann. Aber auch die, die gar nie zu solchen Einsichten kommen, machen im Lauf der unbewußten Erfahrung die gleiche Wendung durch. Wahrheit haben, Recht haben, Wissen, Gut und Böse genau unterscheiden können, infolgedessen richten, strafen, verurteilen, Krieg führen können und dürfen – das ist jugendlich, und es steht der Jugend auch gut an. Wird man älter und bleibt bei diesen Idealen stehen, so verwelken die ohnehin nicht heftigen Fähigkeiten zum »Erwachen«, zum Ahnen der übermenschlichen Wahrheit, die wir Menschen haben.
    (Aus einem Brief vom Juni 1931
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