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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Autoren: Elizabeth Strout
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großer, dicker Körper füllte den Beifahrersitz, ihre Knie stießen fast am Armaturenbrett an. »Und, was führt dich hierher?«, fragte sie.
    Er sah wieder aufs Wasser hinaus. Die junge Frau kam vom Anleger zurück. Hinter ihr schimpften die Möwen wild durcheinander, schlugen mit ihren großen Flügeln und vollführten Sturzflüge; sie musste Muschelschalen weggekippt haben.

    »Bist du auf Besuch da?«, schlug Mrs. Kitteridge vor. »Aus New York? Du lebst jetzt doch in New York, oder?«
    »Ich glaub’s nicht«, sagte Kevin unterdrückt. »Weiß hier jeder alles?«
    »Aber natürlich«, versicherte sie geruhsam. »Es gibt ja sonst nichts zu tun.«
    Sie hatte ihm das Gesicht zugewandt, aber er wich ihrem Blick aus. Über der Bucht schien es nun noch stärker zu wehen. Er schob seine Hände in die Jackentaschen, um nicht an den Knöcheln zu saugen.
    »Wir kriegen jetzt jede Menge Touristen«, sagte Mrs. Kitteridge. »Um diese Jahreszeit ist es hier rappelvoll.«
    Er machte ein Geräusch hinten in der Kehle, weniger als Reaktion auf die Mitteilung als solche (die ihm herzlich egal war) als auf die Tatsache, dass sie mit ihm sprach. Er beobachtete die schlanke Frau mit dem Eimer, die mit gesenktem Kopf wieder hineinging und sorgfältig die Tür hinter sich schloss. »Das ist Patty Howe«, sagte Mrs. Kitteridge. »Erinnerst du dich an sie? Patty Crane. Sie hat den älteren von den Howe-Jungen geheiratet. Nettes Mädchen. Sie hat mehrere Fehlgeburten hinter sich, das setzt ihr ziemlich zu.«
    Olive Kitteridge seufzte, stellte ihre Füße anders hin und rückte, sehr zu Kevins Erstaunen, einfach den Sitz nach hinten, um mehr Platz zu haben. »Als Nächstes sterilisieren sie sie wahrscheinlich, und dann kriegt sie Drillinge.«
    Kevin nahm die Hände aus den Taschen, ließ die Gelenke knacken. »Patty war nett«, sagte er. »Patty hatte ich ganz vergessen.«
    »Sie ist immer noch nett. Das sag ich doch grade. Was machst du in New York?«
    »Ach.« Er hob eine Hand, sah die geröteten Male darauf und verschränkte die Arme. »Meine Facharztausbildung. Ich habe vor vier Jahren Examen gemacht.«

    »Nicht schlecht. Und auf was spezialisierst du dich?«
    Er sah auf das Armaturenbrett und konnte es nicht fassen, wie verdreckt es war. Die Sonne, die darauffiel, schien ihr förmlich entgegenzuschreien, dass er sich gehen ließ, dass er ein Versager war, ohne ein Fünkchen Würde im Leib. Er holte Luft und sagte: »Psychiatrie.«
    Er hatte mit einem »Ahhh …« von ihr gerechnet, und als sie nichts sagte, warf er einen Blick zu ihr hinüber und sah, dass sie nur sachlich nickte.
    »Wirklich schön hier«, sagte er und blinzelte wieder hinaus auf die Bucht. Es war sein Dank für den Takt, mit dem sie es aufnahm, und außerdem stimmte es. Die Bucht - auf die er wie durch eine große Glasscheibe zu blicken schien, viel größer als seine Windschutzscheibe - war wildromantisch in diesem Moment, mit ihren klappernden, wippenden Booten, dem aufgepeitschten Wasser, den Dünenrosen. Wie viel besser, Fischer zu sein, seine Tage inmitten der Elemente zu verbringen. Er dachte an die PET-Ergebnisse, die er betrachtet hatte, im Hinterkopf immer den Gedanken an seine Mutter, während er, die Hände in den Taschen, den Ausführungen der Radiologen lauschte und manchmal gegen die Tränen ankämpfen musste - die Vergrößerung der Amygdala, die verstärkten Läsionen in der weißen Substanz, der deutliche Rückgang der Gliazellen. Das Gehirn der Bipolaren.
    »Aber ich habe nicht vor, als Psychiater zu arbeiten«, sagte er.
    Es stürmte jetzt regelrecht, die Rampe der Landebrücke schaukelte auf und ab. »Unter denen gibt’s wahrscheinlich auch jede Menge Spinner«, sagte Mrs. Kitteridge und stellte die Füße schon wieder anders hin, so dass der Dreck im Fußraum knirschte.
    »Schon.«
    Zu Beginn seines Studiums hatte er Kinderarzt werden
wollen wie seine Mutter, aber dann hatte es ihn zur Psychiatrie gezogen - obwohl er natürlich wusste, dass Leute, die Psychiater wurden, nur ihre eigenen Kindheitstraumata aufarbeiteten und in den Schriften von Freud, Horney und Reich nach Antworten auf die Frage suchten, warum sie sich zu den analen, narzisstischen, ichfixierten Irren entwickelt hatten, die sie nun einmal waren, was sie aber im Leben nicht zugegeben hätten. Mein Gott, welchen Schwachsinn er sich von seinen Kommilitonen, seinen Professoren hatte anhören müssen! Er selbst hatte sich zunehmend auf das Thema Folteropfer verlegt, aber auch
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