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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen
Autoren: Christa Wolf
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brechen. Nur so graben wir aus, was die Natur uns verliehen hat, die alles überspülende Lust.
    Kein Blick, kein Wort mehr. Ich ging. Ich sah sie nicht wieder.

10
    In gewisser Hinsicht gleicht der Planet der Argo:
ziellos, mit nebensächlichem Auftrag,
ausgesetzt den endlichen Abenteuern der Zeit.
    Dietmar Kamper
    Leukon
    Da springen sie wieder hervor, meine Sternbilder. Wie ich sie hasse, diese öden Wiederholungen. Wie mir das alles zuwider ist. Ich kann es niemandem sagen, aber es ist auch niemand mehr da, der es hören wollte. Einsam dasitzen und Wein trinken und dem Lauf der Sterne zusehen. Und die Bilder wieder und wieder sehen müssen, ob ich es will oder nicht, die Stimmen hören müssen, die mich heimsuchen. Ich habe nicht gewußt, was ein Mensch erträgt. Nun sitze ich da und muß mir sagen, auf dieser Fähigkeit, Unerträgliches zu ertragen und weiterzuleben, weiter zu tun, was zu tun man gewöhnt ist, auf dieser unheimlichen Fähigkeit beruht der Bestand des Menschengeschlechts. Wenn ich das früher sagte, waren das Worte eines Zuschauenden, denn man ist Zuschauer, solange kein Mensch einem so nahe ist, daß sein Unglück einem das Herz zerreißt.
    Den hellsten Stern am Himmel, der noch keinen Namen hatte, habe ich Arethusa genannt, und jedesmal empfinde ich den gleichen Schmerz, wenn er am westlichen Himmel untergeht, wie jetzt. Zwischen all diesen entfernten Welten allein auf meiner Welt, die mir um so weniger gefällt, je genauer ich sie kenne. Und verstehe, ich kann es nicht leugnen. So sehr ich mich prüfe. So wenig ich wahrhaben möchte, was diese Prüfung ergibt, ich finde keine einzige der Untaten der letzten Zeit, deren Zeuge ich war, bei der ich nicht beide Seiten verstanden hätte. Nicht entschuldigt, das nicht, aber verstanden. Die Menschen in ihrer Verblendung. Wie ein Makel kommt mir dieser Zwang zu verstehen vor, denich nicht loswerden kann und der mich absondert von den anderen. Medea wußte darum.
    Wie könnte ich diesen letzten Blick vergessen, den sie mir zuwarf, als sie, zwischen zwei Wachen, die sie an den Armen packten, beim Südtor aus der Stadt hinausgestoßen wurde, nachdem man sie, wie bei einem Sündenbock üblich, durch die Straßen meiner Stadt Korinth geführt hatte, die von einer haßschäumenden, schreienden, speienden, fäusteschüttelnden Menge gesäumt waren. Und ich, wer würde mir das glauben, ich spürte etwas wie Neid auf diese Frau, die beschmutzt, besudelt, erschöpft mit einem Stoß der Wachen und einem Fluch des Oberpriesters aus der Stadt verbannt wurde. Neid, weil sie, das unschuldige Opfer, frei war von innerem Zwiespalt. Weil der Riß nicht durch sie ging, sondern zwischen ihr und jenen klaffte, die sie verleumdet, verurteilt hatten, die sie durch die Stadt trieben, beschimpften und bespuckten. So daß sie sich aus dem Schmutz, in den man sie gestoßen hatte, aufrichten konnte, ihre Arme gegen Korinth erheben und mit ihrer letzten Stimmkraft verkünden konnte, Korinth werde untergehen. Wir, die wir am Tor standen, hörten die Drohung und gingen schweigend zurück in die totenstille Stadt, die mir leer vorkam ohne die Frau. Doch zugleich mit der Last, die mir Medeas Schicksal auferlegte, spürte ich ein Erbarmen mit den Korinthern, diesen armseligen Mißgeleiteten, die ihre Angst vor der Pest und vor den bedrohlichen Himmelserscheinungen und vor dem Hunger und vor den Übergriffen des Palastes nicht anders loswerden konnten, als sie auf diese Frau abzuwälzen. Alles ist so durchsichtig, alles liegt so klar auf der Hand, es kann einen verrückt machen.
    Die Pest ist im Abflauen, aus den reicheren Vierteln hat sie sich schon zurückgezogen, höchstens ein oder zwei Leichenkarren sehe ich von meinem Turm aus vor Einbruch der Dunkelheit noch in Richtung auf die Totenstadt ziehen. Jedermann kann nun sehen, daß wir den Willen der Götter richtig gedeutet haben, als wir die Zauberin aus der Stadt trieben. »Wir« sage ich, und erschrecke kaum. Wir Korinther. Wir Gerechten. Auch ich habe nichts getan, um sie zu retten. Ich bin ein Korinther. Besser, es zuzugeben, besser, die Trauer auszukosten und die Scham, die mich Nacht für Nacht auf diesen Turm treibt. Um zu denken, was mich um den Verstand bringen kann: Wenn Arethusa lebte, sie würde mich nicht mehr wollen. Auch mit dieser Wahrheit werde ich leben, ich weiß es. Und ich werde mich nicht hinunterstürzen, sooft ich mich auch an die Einfassung dieser Terrasse stelle und hinunterblicke. Immer habe ich die
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