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Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes

Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes

Titel: Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes
Autoren: Georges Simenon
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er so fest und unbeweglich auf seinen kräftigen Beinen, daß er wie eine leblose Masse wirkte. Man hörte aber in regelmäßigen Abständen seine Pfeife knistern. Man konnte sich auch die gespannte Erwartung in seinem Blick vorstellen, die er nicht zu unterdrücken vermochte.
    Zehnmal schon mußte er dem Untersuchungsrichter Coméliau beruhigend an die Schulter gefaßt haben, weil dieser nicht stillhalten konnte.
    Der Richter war um ein Uhr eingetroffen. Er kam von einer Abendgesellschaft, im dunklen Anzug, den dünnen Schnurrbart sorgfältig gebürstet, das Gesicht röter als üblich.
    Neben ihm stand mit verdrießlicher Miene und hochgeklapptem Rockkragen der Direktor der Santé, Monsieur Gassier, und tat, als ginge ihn das Ganze nichts an.
    Es war kalt. Der Wächter am Hoftor stampfte auf den Boden, und der Atem der Männer stieg als feiner Dampf in die Luft.
    Vom Gefangenen war nichts zu sehen, da er die beleuchteten Stellen mied. Doch wie sehr er auch darauf bedacht sein mochte, keinen Lärm zu machen, man hörte ihn hin und her gehen, konnte gewissermaßen jede seiner Bewegungen verfolgen.
    Nach zehn Minuten trat der Richter dicht an Maigret heran, öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Der Kommissar packte ihn so hart an der Schulter, daß er verstummte, seufzte, mechanisch eine Zigarette aus der Tasche holte, die ihm sogleich entrissen wurde.
    Alle drei hatten begriffen. Nummer 11 fand den Weg nicht. Jeden Augenblick konnte er von einer Patrouille entdeckt werden.
    Und man konnte nichts tun! Man konnte ihn nicht zu der Stelle an der Mauer führen, wo ein Paket mit Kleidern für ihn bereitlag und wo ein mit Knoten versehener Strick herabhing.
    Dann und wann fuhr ein Wagen auf der Straße vorbei. Dann und wann auch waren Stimmen zu hören, die im Gefängnishof eigentümlich widerhallten.
    Die drei Männer konnten sich nur mit Blicken verständigen. Diejenigen des Gefängnisdirektors waren verbissen, ironisch, wütend. Richter Coméliau spürte, wie sein Unbehagen und seine Nervosität sich zusehends steigerten.
    Und Maigret war der einzige, der sich zur Ruhe zwang, der zuversichtlich blieb. Aber hätte er im vollen Licht gestanden, so hätte man auf seiner Stirn glitzernde Schweißperlen sehen können.
    Als es halb drei schlug, tappte der Gefangene noch immer ziellos umher. In der nächsten Sekunde jedoch durchfuhr die drei Männer der gleiche Schock.
    Man hatte den Seufzer nicht gehört. Man hatte ihn erraten. Und man erriet, man spürte die fieberhafte Eile des Mannes, der endlich mit dem Fuß an das Kleiderpaket gestoßen war und den Strick entdeckt hatte.
    Immer noch verstrich die Zeit im Takt der Schritte des Wächters. Der Richter setzte im Flüsterton zu einer Frage an:
    »Sind Sie sicher, daß …«
    Maigrets Blick ließ ihn verstummen. Und der Strick bewegte sich. An der Mauer tauchte etwas Helles auf: das Gesicht des Sträflings Nummer 11, der sich an den Knoten emporzog.
    Es dauerte lange! Zehnmal, zwanzigmal länger als geplant. Und als er oben angelangt war, schien er das Unternehmen aufzugeben, denn er rührte sich nicht mehr.
    Man sah ihn jetzt als Schattenriß flach auf der Mauer liegen. War ihm schwindlig geworden? Hatte er Angst, sich auf die Straße hinuntergleiten zu lassen? Waren es Passanten, die ihn daran hinderten, oder ein Liebespaar, das sich in eine Mauernische drückte?
    Richter Coméliau schnippte ungeduldig mit den Fingern. Der Gefängnisdirektor sagte leise:
    »Sie brauchen mich hier wohl nicht mehr …«
    Endlich wurde der Strick heraufgezogen und auf der Straßenseite hinuntergelassen. Der Mann verschwand.
    »Wenn ich Ihnen nicht blindlings vertrauen würde, Kommissar, hätte ich mich niemals auf dieses Abenteuer eingelassen, das schwöre ich Ihnen … Vergessen Sie nicht, daß ich Heurtin nach wie vor für schuldig halte! Angenommen, er entwischt Ihnen …«
    »Sehe ich Sie morgen?« war alles, was Maigret erwiderte.
    »Ab zehn Uhr bin ich im Büro.«
    Schweigend drückten sie sich die Hand. Der Direktor reichte die seine mit spürbarem Widerwillen und entfernte sich unter undeutlichem Brummen.
    Maigret blieb noch eine Weile vor der Mauer stehen. Erst nachdem er jemanden Hals über Kopf hatte davonlaufen hören, wandte er sich dem Hoftor zu. Er hob die Hand zum Gruß, als er am Wachtposten vorbeiging, warf einen Blick auf die menschenleere Straße, bog in die Rue Jean-Dolent ein.
    »Abgehauen?« fragte er die schemenhafte Gestalt, die an der Mauer lehnte.
    »In Richtung
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