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Madame Lotti

Madame Lotti

Titel: Madame Lotti
Autoren: G Arx
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sich heran. Aziz will ständig getragen werden! Stellt man ihn auf den Boden, schreit er unverzüglich. Und da meine Frau den ganzen Tag an ihrem Marktstand steht, bin ich es, der sich um den Kleinen kümmert. Meine Arme», fährt Ouattara, ohne Luft zu holen, weiter, «schmerzen inzwischen bedenklich, vor allem der, in welchem ich nach einer Fraktur noch Metall habe; zum Glück ist der Leistenbruch, dessen Operation mir Madame Lotti bezahlte, verheilt. Überhaupt kann ich mich glücklich schätzen, hier zu arbeiten! Wo sonst könnte ich, währenddem ich Geld verdiene, meinen Sohn bei mir haben?»
    Als er endlich Luft holt, schaut Aziz seinen Vater verwundert an. Ganz offenbar ist er sich einen solchen Redeschwall von ihm nicht gewohnt.
    Als ich durch das orangefarbene Tor in den Slum trete, bleibe ich erst mal stehen, schaue mich um, sehe, dass die Boutique, so wird der kleine Laden vis-à-vis des Ambulatoriums genannt, bereits offen ist, und auch der Kiosk, wo Lotti jeden Morgen punkt sieben frühstückt: gefriergetrockneten, kondensmilchsüssen Kaffee mit einem Stück Baguette, das dick mit Margarine bestrichen ist. Kioske, so werden hier zwei auf zwei Meter grosse, offene Holzhütten genannt, die Getränke ausschenken und auf völlig zerbeulten Bratpfannen, die unseren Lebensmittelinspektoren die Haare zu Berge stehen lassen würden, Spaghetti mit Nierchen wärmen. Ich habe schon davon gegessen, sie sind gut. Ehrlich!
    Frauen stehen vor den Türen ihrer Hütten, in denen oftmals bis zu acht Personen auf engstem Raum leben, und wischen Sand. Vögel zwitschern leise. In der Luft liegt der Duft von heissem Öl, in welchem Hefegebäck frittiert wird.
    Der Weg hinunter zum Sterbespital führt mich vorbei an zähneputzenden Menschen, die dazu meist keine Zahnbürste, sondern ihre Finger benutzen. Vorbei an Frauen, die sich ihre Kinder auf den Rücken binden. Vorbei an einem kleinen Mädchen im Sonntagsstaat – einem rosaroten, völlig verdreckten Spitzenkleidchen – und schliesslich an einem Mann, der einem anderen stolz seinen Fang präsentiert. Eine weisse und eine graue Taube, die er beide in seiner Rechten hält. Daumen und Zeigefinger fest an die Wurzeln ihrer aufgespannten Flügel gepresst, machen die Vögel keinen Wank. Nur ihre Augen verraten, dass sie noch am Leben sind. Allerdings nicht mehr lange. Sonntagsbraten.
    Vor dem Tor des Sterbespitals steht Félix, ein Pfleger der ersten Stunde. Er scheint sich eine frühe Rauchpause zu gönnen. Um mich zu begrüssen, drückt er die Zigarette aus. Dies, obwohl sie ihn – das weiss ich – ein kleines Vermögen gekostet hat. Allerdings tut er es so vorsichtig, dass er sie später noch einmal anzünden kann.
    «Ich freue mich», sagt er, «dass du wiedergekommen bist», und rückt seine viel zu grosse Brille zurecht.
    «Du trägst eine Brille, seit wann?»
    «Ich habe sie schon eine Weile, bloss brauche ich sie je länger, je mehr, so ist das eben», erklärt Félix und fragt dann, ob ich nicht reingehen wolle. Doch, eigentlich will ich, aber ich möchte den Moment der Vorfreude noch etwas auskosten. Die Vorfreude, Arlette, die aus dem Norden stammt und die mit ihren beiden Kindern hier einen Zufluchtsort vor dem Krieg gefunden hat, wieder zu treffen. Und Alphonse, der wie ein König auf seinem Sofa thront, weil kein Bett mehr übrig ist. Den blinden Felix, der meine Stimme lange mit der von Lotti verwechselt hat. Die Kinder Emanuel, Christ und Mohamed. Und natürlich Yusuf. Ich weiss noch nicht, dass dort drinnen neue Gesichter sind, die ich nie vergessen werde. Das von Noël, das von Alimata, das von Antoine.
    Nachdem ich den Sand von den Schuhen geklopft habe, betrete ich den Raum, der u-förmig von Zimmern umgeben und von Hoffnung erfüllt ist. Aber auch von Desillusion. Von Ruhe. Aber auch von Rastlosigkeit. Von Leben. Aber auch von Tod. Dass das Sterbespital, verglichen mit vielen anderen, offiziellen Gesundheitsanstalten im Lande, paradiesische Verhältnisse aufweist, weiss ich seit meinem zweiten Besuch, bei welchem Lotti mich in eines der öffentlichen Spitäler geführt hatte. Darüber schreiben darf ich allerdings nicht, das mussten Lotti und ich der dort Dienst habenden Ärztin auf die Hand versprechen. Nur so viel: Es fehlt, von Farbe für die Wände über Betten bis hin zu sterilen Tüchern, an allem. Und das in einem Land, das einmal zu den stabilsten Ländern Schwarzafrikas gehörte. Die politische Unruhe, die Zerrissenheit in Norden und Süden, die
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