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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Autoren: Imre Kertész
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Ihr Papst, sozusagen um Verzeihung «für den Holocaust» gebeten hat, daß das Lamm Gottes aber die Schuld nicht auf sich nahm?
    Da geschah die Entgleisung, mein lieber katholischer Freund; da war die große Gelegenheit, die die Möglichkeit zu Erneuerung und Läuterung barg, wozu die Kirche aber, einfach aus politischen Gründen, nicht imstande war. Damit war sie auch nicht imstande, Ihre Kirche und das Christentum zu retten. Was bedeutet Christentum heute? Wenn wir bei Ungarn bleiben: eine leere, politische Formel. Wenn wir weiter schauen: die zerstörte europäische Kultur. Täuschen wir uns nicht: die offiziellen, institutionalisierten Glaubensformeln sind ausgehöhlt – das betrifft jeden Glauben, alle Kirchen und religiösen Gemeinden gleichermaßen. Es könnte ja sein, es wird noch einmal eine heilige Teresa von Ávila, einen heiligen Johannes der Täufer usw. geben, die mit ihrem Glauben den Glauben erneuern; aber darauf sollten wir nicht allzusehr hoffen. Sicher aber können wir sein, daß vom Herrn Kardinal Paskai die Auferstehung nicht zu erwarten ist. Und ein Katholik, der die Auferstehung seiner Kirche wünscht, kommt nicht weit, wenn er seine schönen Wünsche nur zum Ausdruck bringt: Er muß sein Leben daransetzen, durch eine minder glaubwürdige Tat ist gar nichts zu erreichen, es wäre nur ein Rufen in der Wüste, ein gutgemeinter pädagogischer Artikel in
Élet és Irodalom,
zu dem die Besseren kräftig nicken, die Bösen die Zähne fletschen und den am nächsten Tag alle vergessen haben.
    Langsam entfaltet sich doch die ganze Größe der Geschichte (
Liquidation
). Das Erzählen der Geschichte ist zugleich die Zurücknahme der Geschichte. Irgendwo am Ende wird wiederholt: «Nennen wir unseren Mann, den Helden dieser Geschichte, Kerserű …» usw. – Kerserű revoltiert gegen seine Geschichte.
    27 . April 2001  Seit Wochen anhaltende Depressionen. Ich lebe außerhalb des Romans. Jeden Tag Abendessen in Gesellschaft, mit Fremden. Der größere Teil meines Lebens ist eine tief empfundene sinnlose Zeitvergeudung. Ich bin unfähig, mich dem zu erwehren. Meine Schwäche M. gegenüber. Die physischen Demütigungen des Alters. Das Alter – das hätte ich nie gedacht – setzt schlagartig ein. Von einem Tag, fast von einem Moment auf den anderen. Plötzlich verändert sich deine Körperhaltung, und du kannst nichts dagegen tun. Plötzlich überkommt dich anfallartiger Harndrang, dem du innerhalb von Sekunden nachgeben mußt, sonst beschmutzt du dir in demütigender Weise die Wäsche. Der größte Schlag aber ist die Impotenz, wenn du das Interesse an Frauen noch keineswegs verloren hast. Der andere Schlag ist die Schlaflosigkeit. Im Moment ist es drei Uhr zweiundvierzig, und ich habe noch kein Auge zugetan. Morgen früh muß ich vor «großem Publikum» spanische Schriftsteller vorstellen, die ich nicht kenne, und Spanisch spreche ich nicht, ich werde mich durch totale Inkompetenz auszeichnen; macht nichts, die ganze Epoche, in der wir leben, ist inkompetent.
    Etwas anderes: Warum kann ich die erste Ohrfeige, die ich von meinem Vater zur Strafe erhielt, nicht vergessen? Es passierte an einem Mittag im Internat, im Schlafsaal der Anstalt, in dem sich außer uns beiden niemand aufhielt. Mein Vater hatte irgendwann gesagt, wenn ich hungrig sei, solle ich beim Lebensmittelhändler an der Ecke – er hieß Ács, sein Laden lag in der Szondi-Straße/Ecke Mihály-Munkácsi-Straße, ein Kellergeschäft – anschreiben lassen und mir auf Kredit etwas zusätzlich kaufen. Ich aß die ganze Woche Buttersemmeln mit Salami. Es ist denkbar, daß mein Vater einen Haufen Geld dafür bezahlen mußte (wieviel kann es schon gewesen sein?). Aber egal, mein Vater war nun einmal arm und betrachtete meine Salami-Esserei offenbar als eine Art Exzeß.
    Aber er machte nicht viele Worte zur Rechtfertigung. Er hatte sich offensichtlich für eine demonstrative Tat entschieden, eine schallende Ohrfeige. Die abseitige Ecke, wo der Akt geschah, und die körperliche Überlegenheit, der ich ausgeliefert war, zwangen mich zu lautem Gebrüll. Psychisch war es ein vernichtendes Ereignis. Ich war vielleicht neun Jahre alt. Erst mit großem Zeitabstand, wenn ich das Ereignis lange genug betrachte, verspüre ich so etwas wie einen befreienden Zug. So, wie Flaubert Maupassant einmal riet, einen Baum so lange anzuschauen, bis er ihn anders sähe als die übrigen und seine unvergleichliche Einzigartigkeit erkenne.
    27 . April 2001  Die
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