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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Autoren: Imre Kertész
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Zwar tröstet man es, daß es sein Spielzeug am nächsten Tag wiederfinden werde, aber das Kind glaubt so wenig an morgen wie der Sterbende.
    8 . Januar 2001  Gestern und vorgestern in Wien, am Sonnabend Besuch bei Ligeti, Gespräche bis tief in die Nacht. Die immer noch wie neu empfundene Freude, mich in den Zug setzen und nach Wien oder sonst wohin fahren zu können, um einen Freund zu besuchen. Ligetis Bitte, ihm zu erzählen, worum es in meinem Roman geht, konnte ich natürlich nicht erfüllen; unmöglich, diese Geschichte in einer Sprache, die Hand und Fuß hat, vorzutragen. Aber heute im Morgengrauen, schlaflos, habe ich mir die ganze vielschichtige Geschichte selbst erzählt. Wieder wurde mir bewußt, wie wichtig der Einbau des Stückes – ein scheinbar zufälliger Einfall – ist und wie sehr es sich verbietet, die Geschichte mit dem Gestus einer «wahren» Geschichte vorzutragen: Sie verlöre völlig ihre Glaubwürdigkeit.
    10 . Januar 2001  Gestern eingeladen; ein jüdisches Ehepaar, etwa Mitte Fünfzig; die Frau (von stark semitischem Aussehen) mit der stereotypen Verwunderung über den «heutigen», den «sogenannten Antisemitismus»; sie sagt, «früher» (sie meint, während des Kádár-Sozialismus) habe sie so etwas (wie die sogenannte «Judenfrage») überhaupt nicht erfahren. Dann sprach sie von ihrem Vater, der Arzt war, er war nach Auschwitz deportiert und in Dachau befreit worden, habe jedoch zu Hause, im Kreis der Familie, nie ein Wort über das Konzentrationslager verloren. Wenn Gott, so zitierte sie den Vater, Auschwitz zugelassen habe, dann habe er mit diesem Gott abgeschlossen, ein für allemal. Mehr habe er über all das nicht gesprochen: Damit war die Angelegenheit für ihn erledigt. – Vermutlich war er Kommunist, zumindest Parteimitglied geworden. Was für eine banale Denkweise. Seine Kinder wurden natürlich nicht im jüdischen Geist erzogen – sofern wir nicht in der skizzierten Denkweise jenen typisch jüdischen Geist erkennen, den der angepaßte jüdische Kleinbürger sich als unklare und unzulängliche Verteidigung ausbildet. Was aus alldem klar hervorgeht, ist die geistige Hilf-und Wehrlosigkeit des Menschen gegenüber jeder Art von Macht. Die grenzenlose Dummheit, die das hiesige Leben – das Leben in einer antisemitischen, haßerfüllten und zerstörerischen Umgebung – dem potentiellen Opfer abverlangt, ist die erste Voraussetzung, der erste Schritt auf dem Weg zu seiner Vernichtung. Doch warum sollte es leichter sein, dumm zu sein, als die Dinge zu erkennen und sich, um einige Fußnoten reicher, auf den Tod vorzubereiten.
    11 . Januar 2001  Alles ist auf der Strecke geblieben – das ist das Grundgefühl, das mich begleitet. Was eigentlich ist auf der Strecke geblieben? Die Möglichkeit der Revolution, jeder neuen geistigen Bewegung überhaupt. Die Zukunft, die geistige Zukunft ist auf der Strecke geblieben – zumindest scheint es so. Darum verfasse auch ich entweder Nekrologe oder eben sprachliche Konstrukte, die von der geistigen Stagnation handeln. – Aber wieso ist es schlimm, daß die Revolution auf der Strecke geblieben ist? Wohin hat Revolution denn letzten Endes geführt? Zu den Nazis und zum Gulag. Die Lehre der Französischen Revolution, daß die Situation des Menschen in der Gesellschaft ungerecht ist und die Gesellschaft deswegen verändert werden muß, hat zu Haß, zu verstärkter Ungerechtigkeit geführt, schließlich zu Völkermord: Die Macht, jede Macht, ist auch heute (trotz demokratischer Wahlen) illegitim. Aus dem Bankrott der europäischen Kultur ist kein Ausweg zu sehen; wo es Dynamik gibt, sind Hybris der Macht, dann Völkermord die Folge, wo es keine Dynamik gibt, drohen Stagnation und durch Stagnation bedingte Verkalkung. Gibt es noch irgendein Ziel, das des Menschen würdig und noch nicht diskreditiert worden wäre? Ist Erneuerung,
rinascimento
noch möglich? Was ist meine Aufgabe, als Mensch, als Künstler? Einsehen, daß ich auch nur von Bankrott sprechen kann? Und deshalb lieber aufhören, aufgeben? «Ich weiß es nicht, auf Ehre und Gewissen, ich weiß es nicht», wie es bei Tschechow heißt.
    12 . Januar 2001  Gestern
Nora
. In einer – zumindest gesellschaftlich – starren Welt übernehmen Psychologie und Charaktere die führende Stimme. Womöglich kehren wir allmählich genau dahin zurück. Dann würden meine Romane allerdings unverständlich werden. (Falls sie es nicht jetzt schon sind.)
    14 . Januar 2001  Das Tagebuch von 1982
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