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Lesereise Backsteinstaedte

Lesereise Backsteinstaedte

Titel: Lesereise Backsteinstaedte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristine Soden
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Tücher unter der Nadel durchliefen, aufstiegen, fielen und sich vor seinem Blick hoben und senkten wie der Vorhang einer Bühne. So beschreibt es der siebzigjährige Wolfgang Koeppen 1976 in seinem Buch »Jugend«. Seinen Nachnamen hatte er sich irgendwann in jungen Jahren von Köppen in Koeppen ändern lassen, Arthur Reinhold gestrichen. Wir haben uns Koeppens Buch aus dem Regal im Café Koeppen genommen, können von unserem Platz aus auf die Bahnhofstraße schauen. Der gleiche Blick wie damals? In dem abgegriffenen, wer weiß wie oft verschlungenen »Band 500« der Suhrkamp Bibliothek steht auf der linken Seite neben dem Titel, wo sich sonst persönliche Widmungen finden, klein gedruckt: »Der Autor wich bewusst von der üblichen Interpunktion ab.« Auf der nächsten Seite ein Zitat von Goethe: »Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene.« Auf der übernächsten Seite beginnt Koeppens Text. Sein erster Satz: »Meine Mutter fürchtete die Schlangen.« Sein zweiter Satz braucht viereinhalb Seiten, bis ausgesprochen ist und ein Punkt gesetzt werden kann, »wie hasste ich die Stadt« – der Gemütszustand des Greifswalder Kindes in dem alternden Mann.
    Wir schlürfen einen heißen Milchkaffee und erinnern uns: Als Wolfgang Koeppens »Jugend« 1976 erschien, klatschte die Kritikerzunft, taumelte alles wie im Rausch. Endlich war es da, das lang ersehnte neue Buch, besser gesagt, ein neues Buch! Namentlich Verleger Siegfried Unseld hatte Tag für Tag auf »die ›Jugend‹« gewartet, »wie man nur auf ›Jugend‹ warten kann«. So formulierte er es einmal. Denn nach der Romantrilogie »Tauben im Gras« (1951), »Das Treibhaus« (1953) und »Der Tod in Rom« (1954) hüllte sich Wolfgang Koeppen in Schweigen. Was Romane anbelangt, jedenfalls. Der nachmalige literarische Quartettmeister Marcel Reich-Ranicki überschüttete Koeppens »Jugend« mit poetischen Preziosen, zog Parallelen zu James Joyce, John Dos Passos, Alfred Döblin. Sensationell wurde das Buch besonders auch daraufhin verkauft. Debatten um die literarische Gattung der »Jugend« begannen. Ist es ein autobiografischer Roman? Ein Prosagedicht? Koeppen selbst hatte »eine Schrift ruhigster Betrachtung« beabsichtigt, weiß man inzwischen aus seinem Nachlass hier im Haus in der Bahnhofstraße 4 im Wolfgang-Koeppen-Archiv. Es ist neben dem Koeppen-Café in einem Seitenflügel untergebracht und gehört zur Greifswalder Universität. Über zehntausend Bücher lagern dort aus Koeppens Nachlass, Briefe, Fotos, Adressbücher, Dokumente. In drei Dutzend Mappen mit der Aufschrift »Jugend« werden Berge von Notizzetteln und Konzepten aufbewahrt: Textanfänge, Textfassungen, stilistische Überlegungen, Verwerfungen, Methodisches, und auf einem Titelblattentwurf nennt Wolfgang Koeppen sein Projekt »Jugend. Fragment einer Fiktion«.
    Die Lektüre ist harter Tobak. Besser als Milchkaffee passt Cognac dazu. Jener viereinhalbseitige Satz klingt wie die schluchzende, immer wieder abgebrochene, weil nur mühsam über die Lippen gebrachte Antwort eines Kindes, das man nach dem Grund seiner Tränen fragt. Und es erzählt uns, weil wir zuhören, weil wir es ernst nehmen, von warmen Sommertagen, an denen es mit seiner Mutter durch die bei Sturmfluten vom Meer überspülte Flur auf brackigem Grund hinausging, »das Gut zu sehen«. Und die Mutter schrie das Kind an, hämmerte ihm ein, dass das Gut Besitz der Familie gewesen sei! »Verlust und Leid«, schreibt Wolfgang Koeppen, »sie sollten mein Erbe sein.«
    Was es mit jenem Gut auf sich hatte, weiß man nicht so genau. Fest steht lediglich, dass es in Lodmannshagen zwischen Greifswald und Wolgast lag und Maria Köppens Mutter Emilie dort aufgewachsen war. Hatte ihr Vater das Gut verwaltet? Und jener Gutsinspektor, dem sich Emilie nach ihrer gescheiterten Ehe anvertraute und von dem sie mit Maria schwanger geworden war, hatte er das Vermögen veruntreut? Oder sonst wie durchgebracht? In den müden Augen seiner Mutter las Wolfgang Koeppen, bevor er buchstabieren konnte, ihre Bitterkeit, und in den Augen seiner Großmutter las er »wuchernde Verzweiflung« über den Verlust der Ehrbarkeit.
    Wir hören dem Kind weiter zu. Es hat sich gefangen, seine Tränen getrocknet und erzählt nun vom Rückweg mit seiner Mutter, fort von dem verlorenen Gut gegen Abend, als Mücken über den Tümpeln »salziger Nässe« tanzten und die Mutter plötzlich erschrak. Im Gras raschelten die »tückischen Ottern«, die Schlangen, die sie

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