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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang
Autoren: Peter Schwindt
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anzurufen, aber er nahm nicht ab. Nur seine Mailbox meldete sich. Yvonne wusste nicht, ob er sie regelmäßig abhörte, also entschloss sie sich, ihm eine SMS zu schicken, um ihm mitzuteilen, dass sie den Mann gefunden hatte und nun versuchen würde, ihn zu observieren.
    Der Mann hielt sich nicht lange auf. Nach einer kurzen Andacht, die wie ein stummes Gebet aussah, ging er wieder. Yvonne hielt Abstand. Wenn der Mann tatsächlich wie ein Phantom lebte, hatte er keine Papiere. Und wenn er keine Papiere hatte, besaß er auch keinen Führerschein und somit auch kein Auto. Entweder war er mit dem Fahrrad gekommen, oder er hatte die S-Bahn benutzt, was am wahrscheinlichsten war. Sie wählte den anderen Ausgang und wartete an der Straßenecke darauf, dass der Mann sich auf den Weg zum Bahnhof machte. Yvonne konsultierte ihren Fahrplan. Der nächste Zug der Linie acht würde in vierzehn Minuten Richtung Frankfurt fahren.
    Der Unbekannte überquerte die Straße und ging zügig, aber nicht gehetzt Richtung Main, wo es kurz vor der Brücke eine S-Bahn-Station gab. Yvonne hatte jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder folgte sie ihm in unauffälligem Abstand, was die Gefahr der Entdeckung in sich barg. Oder sie schlug einen anderen Weg ein und passte ihn an der Bahnhofsunterführung ab. Wenn sie sich getäuscht hatte und er einen anderen Weg nach Frankfurt nahm, hatte sie ihn verloren. Sie ging das Risiko ein. Mit nervösen Händen faltete sie den Stadtplan auf und versuchte sich einen Überblick zu verschaffen, welche Wege sich sonst noch anboten. Sie entschied sich, an der Schnellstraße entlangzugehen, obwohl dort, wie sie feststellte, kein Gehweg war. Trotzdem würde sie auf diese Weise fünf Minuten schneller am Ziel sein.
    Die Rechnung ging auf. Sie stellte sich ans entgegengesetzte Ende des Bahnsteiges und wartete. Um diese Zeit fuhren nicht viele Leute Richtung Offenbach oder Frankfurt. Außer ihr wartete nur noch eine Gruppe Jugendlicher, die betont lässig auf den Lehnen der Bänke saßen, trotz des Rauchverbots eine Kippe im Mund hatten und dabei mit ihren Handys Musik hörten.
    Es war ein eingleisiger Bahnhof. Zuerst hielt der Zug Richtung Hanau, aus dem vielleicht eine Handvoll Menschen ausstiegen und der Treppe entgegenstrebten. Fünf Minuten später kam der Zug aus der Gegenrichtung und hielt. Die Jugendlichen stiegen ein. Von dem Mann war nichts zu sehen. Trotzdem folgte Yvonne ihrem Instinkt und stieg ein. Kurz bevor die Türen zugingen, sah sie, wie er die letzten Stufen der Treppe hochsprang und mit einem Satz im Zug verschwand. Er war in den Waggon vor ihr eingestiegen.
    Die S-Bahn fuhr los. Yvonne ging ans vordere Ende des Wagens und stellte sich dort an die Tür, die sie bei jedem Halt öffnete, um zu schauen, ob der Mann ausstieg. Sie musste bis zum Ostend warten.
    Der Mann bewegte sich in der Menge wie ein Fisch im Wasser, und immer wieder hätte Yvonne ihn beinahe aus den Augen verloren. Fast schien es, als ahnte er, dass er verfolgt wurde, denn er schlug Haken, mischte sich immer wieder unter größere Gruppen und ging niemals einen geraden Weg. Yvonne war sich sicher, dass er sie nicht entdeckt hatte, denn sie spürte, dass sie dieses Spiel eigentlich perfekt beherrschte, immer noch. Aber vielleicht waren dem Mann das Verschmelzen mit der Masse und das Untertauchen geradezu in Fleisch und Blut übergegangen, sozusagen zu seiner zweiten Natur geworden. Jedenfalls war Yvonne überrascht, welche Tricks er beherrschte. Sie wusste nicht mehr, wo sie waren. Sein Weg schien keinem bestimmten Muster zu folgen, und Yvonne zögerte, ihren Stadtplan zurate zu ziehen, denn dann hätte sie ihn sofort verloren, das wusste sie.
    Jedenfalls hatten sie die Hanauer Landstraße schon längst verlassen, als sie vor sich eine Industriebrache sah, die von einem großen Schrottplatz beherrscht wurde. Etwas abseits befanden sich die alten Hallen einer verlassenen Werkstatt. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Yvonne wunderte sich, dass es in einer Stadt wie Frankfurt Orte gab, die so verlassen wirkten wie die Rückseite des Mondes. Immer wieder musste sie Deckung suchen, denn die Fläche ringsum war frei einsehbar.
    Sie hatte sich hinter den Bruchstücken einer Mauer versteckt und den Kopf eingezogen. Sie atmete schwer. Schweiß brannte ihr in den Augen. Hastig schickte sie Thomas eine zweite SMS. Als sie wieder aufschaute, war der Mann verschwunden. Vorsichtig richtete sie sich auf. Niemand außer ihr war auf dieser
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