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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang
Autoren: Peter Schwindt
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offenlasse, ist der Fall tief genug, dass mein Genick bricht. Ich habe gelesen, dass die meisten Selbstmörder, die sich erhängen, die Fallhöhe zu niedrig einkalkulieren. Dann ersticken sie, ganz langsam. Das habe ich nicht vor. Es soll wenigstens schnell gehen.
    Unten im Keller finde ich ein Seil, das dick und stabil genug ist. Sehr lang muss es nicht sein. Zweieinhalb Meter reichen vollkommen aus. Sonst breche ich mir womöglich nur die Beine.
    Ich weiß nicht, wie wichtig der Knoten ist, also knüpfe ich eine einfache Schlinge. Dann geh ich die Treppen hinauf.
    Einen kurzen Moment bleibe ich vor Julias Zimmer stehen. Wenn es wirklich stimmt, was man sich so erzählt, dann werde ich sie in fünf Minuten wiedersehen.
    In meinem Atelier öffne ich die Dachbodenluke und fahre die Leiter aus. Schließlich knote ich das Seil an den Balken, lege mir die Schlinge um den Hals und stelle mich über das Loch, bereit zum Sprung. Ich atmete zwei-, dreimal tief durch, als würde ich Anlauf nehmen. Wieland wird leben, auch nach zwanzig Jahren noch, doch Julia ist tot. Und ich werde es auch sein. Ich zögere. Der Mörder meiner Tochter wird leben. Ich fahre mir mit der Hand über das Gesicht. Unter mir sehe ich den Linoleumboden, Blätter liegen verstreut auf dem Boden. Ich sehe genauer hin. Dann ziehe ich den Kopf aus der Schlinge. Gehe die Leiter hinunter. Hebe eines der Blätter auf.
    Es ist die Zeichnung, die ich gemacht habe, nachdem ich Julia in der Gerichtsmedizin gesehen hatte. Sehe wieder, was er ihr angetan hat.
    Sie ist tot, und er wird leben.
    Der Hass, den ich plötzlich auf Wieland habe, ist so groß, dass ich das Blatt zerreiße, Stück für Stück.
    Nein, es muss andersherum sein, genau andersherum. Ich muss leben, damit er stirbt.
    Ich schwöre mir, beim Leben meiner Tochter, beim Tod meiner Tochter, dass ich ihn so leiden lasse, wie er sie hat leiden lassen. Er wird sterben, durch meine Hand, und wenn er stirbt, soll er wissen, wer ihn tötet. Er wird sehr viel Zeit haben, darüber nachzudenken, während ich ihm Scheibe für Scheibe das Leben wegschneide. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Aber ich kann warten. Mein Leben ist ohnehin am Ende. Doch ich muss vorsichtig sein. Je näher der Tag rückt, an dem der Mörder meiner Tochter wieder hinaus ins Leben tritt, desto genauer wird man mich im Auge behalten.
    Es sei denn, man hält mich für tot.
    Ich werde alles zurücklassen müssen. Nur meine Erinnerung werde ich mit mir nehmen. Und ein Bild meiner Tochter. Nicht das, was vor dem Sarg der Kirche gestanden hat. Nein, ich nehme das, wo sie glücklich war wie noch nie in ihrem Leben. Wo sie das Spielgeld in die Luft hält, so als hätte sie den Jackpot geknackt. Ich löse die Schlinge vom Deckenbalken und schließe die Luke wieder. Dann steckte ich das Bild in meine Hosentasche, hole das letzte Bargeld aus meiner Schublade und gehe.

V or zwanzig Jahren, im Sommer 1990, wurde die zehnjährige Julia Steilberg ermordet. Wenige Tage später wurde der Bruder der Mutter festgenommen. Obwohl sich Yvonne noch immer nicht genauer an die Zeit erinnern konnte, wusste sie jetzt, dass sie damals mit zu den ermittelnden Beamten gehört hatte. Wenn sie wissen wollte, was genau in diesen Wochen geschehen war, hatte sie keine andere Wahl. Sie musste mit ihren ehemaligen Kollegen sprechen.
    Yvonne hatte zwar noch immer die Durchwahl ihres damaligen Vorgesetzten, doch nach all den Jahren stimmte die Nummer wahrscheinlich nicht mehr. Deswegen rief sie die Zentrale des Polizeipräsidiums an und ließ sich zu ihm durchstellen. Die Chance, dass sie ihn an diesem Tag an seinem Schreibtisch erwischen würde, war eigentlich gering, doch sie hatte Glück. Nachdem sie eine halbe Minute lang mit seichter Musik bedudelt worden war, nahm jemand am anderen Ende der Leitung ab.
    »Schumacher.«
    »Ich bin es. Yvonne.« Ihr Herz schlug bis zum Hals.
    Schumacher sagte kein Wort, und Yvonne rechnete schon fast damit, dass er auflegen würde.
    »Wie geht es dir?«, fragte er schließlich. Die Stimme war kühl und distanziert.
    »Willst du die Wahrheit hören, oder soll ich höflich sein.«
    »Sei einfach höflich.«
    »Mir geht es gut, so gut wie noch nie in meinem Leben«, antwortete sie mit gespieltem Überschwang. »Ich würde mich gerne mit dir treffen.«
    »Warum?«
    »Bitte. Es ist wichtig.«
    »Für wen? Für dich oder für mich?«
    »Für mich«, sagte Yvonne. »Kann ich vorbeikommen?«
    Schumacher lachte am anderen Ende der Leitung laut
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