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Kalter Mond

Kalter Mond

Titel: Kalter Mond
Autoren: Giles Blunt
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jungen Mann hinter der Theke sprach. Der Angestellte hörte zu und nickte aufmerksam. Cardinal hatte es schon immer verstanden, den Leuten das Gefühl zu geben, dass das, was sie taten und wie sie mit den Details umgingen, wichtig sei. Dieser Unterschied konnte darüber entscheiden, ob man einen Fall löste oder vermasselte. Jerry wartete, bis er fertig war.
    »Ich glaub, ich hab hier einen Fall für Sie«, sagte er. »Ich weiß doch, dass Sie nicht ausgelastet sind.«
    »Hab ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie hier nichts mehr zu suchen haben, Jerry?«
    »Ich weiß, aber ohne Sie bin ich nur ein halber Polizist, und mein Leben ist wüst und leer.«
    »Lange nicht gesehen. Ich nehme mal an, Sie waren zum Schnorcheln unten in Florida oder so.«
    »Schön wär’s. Hab bei ’ner Überwachung in Reed’s Falls rumgehangen. Aber heute Abend bin ich über was gestolpert. Ziemlich merkwürdig, das Ganze.« Jerry erzählte ihm vom Rotschopf.
    »Keine Drogen? Klingt fast so, als hätte sie eins auf den Nischel bekommen.«
    »Ja, genau. Keine Ausweispapiere dabei, keine Schlüssel, kein gar nichts.«
    Dr. Fortis kam von der Radiologie zurück und machte ein besorgtes Gesicht.
    »Etwas Unerwartetes«, sagte er zu Jerry. »Kommen Sie, sehen Sie selbst.«
    »Wir sollten John einbeziehen. Vermutlich wird das ein Fall für die Kripo Algonquin Bay. Sie kennen Detective Cardinal?«
    »Selbstverständlich. Kommen Sie.«
    Cardinal folgte ihnen durch den Flur in einen Praxisraum, in dem dunkle Röntgenbilder an Leuchttafeln geklemmt waren. Dr. Fortis knipste das Licht an, und die zierlichen Schädel- und Halswirbel der jungen Frau erschienen vor ihren Augen, von vorne und von der Seite.
    »Ich glaube, wir wissen jetzt, wieso unsere rothaarige Freundin so sanftmütig ist. Wie die Dinge liegen, werden wir sie für einen chirurgischen Eingriff nach Toronto runterschicken«, sagte Dr. Fortis. »Sehen Sie das hier?« Er zeigte auf eine helle Stelle mitten in der Profilansicht.
    »Ist es das, wofür ich es halte?«, fragte Cardinal.
    »Ich kann Ihnen sagen, dass ich mir im Moment wie ein ziemlicher Stümper vorkomme. Ist mir bei der Untersuchung völlig entgangen. Ich kann mich allenfalls auf ihr dichtes, rotes Haar rausreden.«
    »Sieht nach Kaliber 32 aus«, sagte Jerry.
    »Ist durch den rechten parietalen Bereich eingetreten und hat teilweise die Stirnlappen durchtrennt«, sagte Dr. Fortis. »Daher die Affektminderung.«
    »Ist das reversibel?«, wollte Jerry wissen.
    »Auf dem Gebiet bin ich kein Experte, aber es gibt die erstaunlichsten Fälle von Patienten, die sich von solchen Schädigungen erholt haben. Das hier ist allerdings wirklich ein Fall, der in die Medizingeschichte eingehen dürfte: selbst zugefügte Lobotomie.«
    »Vielleicht nicht selbst zugefügt«, sagte Cardinal. »Frauen, die Selbstmord begehen wollen, erschießen sich in den seltensten Fällen. Sie nehmen eine Überdosis, sie machen es mit dem Auspuff ihres Autos. Wir werden veranlassen, dass die Kollegen von der Spurensuche eine Schussrückstandsanalyse an ihrer Hand vornehmen.«
    »Vielleicht nicht nötig«, sagte Jerry.
    Das Mädchen saß, von einem Pfleger begleitet, in einem Rollstuhl an der Tür und lächelte immer noch.
    »Wir haben das EEG«, sagte der Pfleger.
    Dr. Fortis sah sich den Ausdruck an.
    »Sie sagen, die Eintrittswunde ist rechts?«, fragte Jerry den Arzt.
    »Richtig. An der rechten Schläfe.«
    »Hey, Red.« Jerry nahm einen Stift aus der Tasche. »Fang.« Er warf den Stift über den Kopf. Eine blasse Hand schoss in die Höhe und schnappte in der Luft zu. Es war die linke.
    »Nun ja«, sagte Cardinal, »dann wäre der Selbstmord ja wohl vom Tisch.«

2
     
    A lgonquin Bay mit seinen 58 000 Einwohnern und zwei kleinen Krankenhäusern kann sich keine eigenen Neurochirurgen leisten, weshalb Cardinal eine Dreiviertelstunde später den Highway 11 Richtung Toronto, der vier Autostunden südlich gelegenen Metropole, hinunterbretterte.
    Nach einem prüfenden Blick auf das EEG hatte Dr. Fortis Red eine Halskrause anlegen lassen und sie mit Antibiotika sowie krampfvorbeugenden Medikamenten vollgepumpt. Danach hatte er einen Krankenwagen bestellt. »Sie scheint stabil zu sein«, sagte er, »aber ich sehe gewisse Anzeichen für Krampftätigkeit in ihrem EEG. Die werden sie sofort operieren wollen.«
    »Ich bin mir ziemlich sicher, dass das kein Selbstmordversuch war«, sagte Cardinal, »aber ich werde ihre Hand auf Schussrückstände untersuchen lassen, bevor
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