Intrige (German Edition)
erfüllen die Luft mit dem Geruch nach feuchtem Staub. Einige der Reporter haben sich mir an die Fersen geheftet. Sie laufen neben mir her, stellen mir Fragen und schaffen es irgendwie, meine Antworten aufzuschreiben.
»Dann befindet sich der Attentäter also noch auf freiem Fuß?«
»Soweit ich weiß, ja.«
»Glauben Sie, dass er gefasst wird?«
»Das ist gut möglich. Ob es aber wirklich dazu kommt, ist eine andere Frage.«
»Glauben Sie, die Armee steckt dahinter?«
»Ich hoffe nicht.«
»Sie schließen es aber nicht aus.«
»Lassen Sie mich so sagen: Ich finde es schon seltsam, dass in einer Stadt, in der sich fünftausend Polizisten und Soldaten aufhalten, ein Attentäter Dreyfus’ Anwalt niederschießen und dann problemlos verschwinden kann.«
Mehr wollten sie nicht hören. Als wir die Schule erreichen, lassen sie mich stehen und laufen zur Bourse de Commerce, um ihre Geschichten an die Heimatredaktionen zu telegrafieren.
Im Gerichtssaal steht Mercier im Zeugenstand, und noch während ich mich auf meinen Platz setze, ist mir klar, dass Demange sich mit der Befragung schwertut. Demange ist ein anständiger, kultivierter Mann von knapp sechzig Jahren mit verschlafenen Augen, der seinen Mandanten seit knapp fünf Jahren treu und brav vertreten hat. Aber er ist auf das Kreuzverhör nicht vorbereitet, und selbst wenn er es wäre, wäre er im Gegensatz zu Labori unfähig, einen Kontrahenten festzunageln. Um es offen zu sagen, er ist ein Dampfplauderer. Er hat die Angewohnheit, jede Frage mit einem Vortrag einzuleiten, was Mercier reichlich Zeit verschafft, über eine Antwort nachzudenken. Mercier lässt ihn locker abblitzen. Befragt nach dem gefälschten Panizzardi-Telegramm im Archiv des Kriegsministeriums, streitet er jede Kenntnis davon ab. Befragt, warum er das Telegramm nicht dem von ihm den Richtern vorgelegten Geheimdossier hinzugefügt habe, sagt er, das habe dem Außenministerium nicht gepasst. Nach ein paar weiteren Minuten mit ähnlichem Geplänkel wird er aus dem Zeugenstand entlassen. Als er durch den Gang zu seinem Platz zurückgeht, wandert sein unruhiger Blick auch in meine Richtung. Er bleibt stehen, verbeugt sich und streckt die Hand aus. Er weiß genau, dass der ganze Saal uns beobachtet. »Monsieur Picquart, das sind wirklich entsetzliche Nachrichten«, sagt er mit einschmeichelnder Stimme und so laut, dass es die Hälfte der Zuschauer hören kann. »Wie geht es Maître Labori?«
»Die Kugel steckt ihm noch im Leib, Herr General. Morgen werden wir mehr wissen.«
»Das ist ein zutiefst bestürzender Vorfall. Richten Sie bitte Madame Labori meine besten Wünsche zur Genesung Ihres Mannes aus.«
»Natürlich, Herr General.«
Seine seltsamen meergrünen Augen fixieren mich, und für den Bruchteil eines Lidschlags sehe ich wie eine im Wasser aufragende Flosse den Schatten seiner dumpfen Bösartigkeit. Dann nickt er und geht weiter.
•
Am nächsten Tag ist Mariä Himmelfahrt, ein Feiertag, und das Gericht tagt nicht. Labori übersteht die Nacht, das Fieber sinkt. Es gibt Hoffnung, dass er sich erholt. Am Mittwoch beantragt Demange eine Unterbrechung der Verhandlung für zwei Wochen, bis entweder Labori sich so weit erholt habe, dass er seine Arbeit wieder aufnehmen könne, oder bis der neue Anwalt – Albert Clemenceau ist bereit einzuspringen – sich in den Fall eingearbeitet habe. Jouaust lehnt den Antrag rundheraus ab. Die Umstände seien unglücklich, aber die Verteidigung müsse eben, so gut es gehe, damit zurechtkommen.
Die Morgensitzung beschäftigt sich zunächst mit Dreyfus’ Haftbedingungen auf der Teufelsinsel. Als die grauenhafte Brutalität seiner Behandlung geschildert wird, senken selbst die Zeugen der Anklage – sogar Boisdeffre und Gonse – beschämt die Augen angesichts der langen Liste an Qualen, die Dreyfus im Namen des Rechts zugefügt wurden. Als am Ende Jouaust den Angeklagten fragt, ob er dazu etwas sagen wolle, antwortet Dreyfus mit nur steif: »Ich bin hier, um meine Ehre und die meiner Kinder zu verteidigen. Zu der Folter, die ich ertragen musste, werde ich nichts sagen.« Er zieht den Hass der Armee ihrem Mitleid vor. Was wie Kälte erscheint, ist vor allem sein fester Wille, kein Opfer zu sein. Das wird mir jetzt klar, und dafür achte ich ihn.
Am Donnerstag werde ich aufgerufen.
Ich gehe nach vorn und steige die zwei Stufen zum Zeugenstand hinauf. Ich bin mir der Stille bewusst, die sich über den voll besetzten Gerichtssaal gelegt hat. Ich bin
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