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Hochzeit des Lichts (German Edition)

Hochzeit des Lichts (German Edition)

Titel: Hochzeit des Lichts (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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Erste, was der Lehrling in ihrer Schule lernt, ist Mitleid mit sich selber. Sie hilft dem Menschen bei seinem angestrengten Versuch, sich vor der Gewissheit des absoluten Todes zu drücken. Aber ich sehe Djemila und weiß: Der einzige wahre Fortschritt der Kultur, den von Zeit zu Zeit ein Mensch für sich verwirklicht, besteht darin: bewusst zu sterben.
    Es erstaunt mich immer wieder, wie dürftig unsere Ideen über den Tod sind, da wir doch all unsere andern Ideen so eifrig hin und her wenden. Der Tod ist entweder gut, oder er ist böse. Man fürchtet ihn oder ruft ihn herbei (wie es heißt). Dies beweist aber auch, dass das Einfache als solches über unser Begreifen geht. Was ist das, was wir »blau« nennen? Wie können wir’s denken? Das Gleiche gilt für den Tod. Über den Tod und über die Farben können wir nicht reden. Und doch ist dieser Mensch, den ich vor mir sehe, schwer wie die Erde, eine Vorgestalt dessen, was mich erwartet, und mir unendlich wichtig. Aber kann ich ihn »denken«? Ich sage mir: Ich muss sterben; aber was heißt das? Ich kann’s weder glauben noch an mir erfahren, sondern immer nur an andern. Ich habe Leute sterben sehen, vor allem Hunde. Das Entsetzliche ist: sie zu berühren. Ich denke dann an Blumen, an das Lächeln der Frauen, an Liebe und begreife, dass meine Todesangst nur die Kehrseite ist meiner Lebensgier. Ich beneide alle, die künftig leben werden und die Wirklichkeit der Blumen und Frauen in Fleisch und Blut erleben. Ich bin neidisch, weil ich das Leben allzu sehr und mit schicksalhafter Selbstsucht liebe. Was kümmert mich die Ewigkeit! Eines Tages liege ich vielleicht im Bett, und jemand sagt zu mir: »Sie sind kein Feigling, ich will aufrichtig mit Ihnen reden. Sie werden bald sterben.« Und ich liege da mit meinem ganzen Leben, meiner ganzen herzabschnürenden Angst und starre ihm fassungslos ins Gesicht. Das Blut steigt mir zu Kopf und klopft in den Schläfen. Wahrscheinlich würde ich alles um mich her kurz und klein schlagen.
    Aber die Menschen sterben widerwillig. Man sagt ihnen: »Wenn du wieder gesund bist …«, und dann sterben sie. Das will ich nicht. Und wenn die Natur bisweilen lügt, so sagt sie bisweilen auch die Wahrheit. Djemila an diesem Abend sagt die Wahrheit; und wie traurig, wie eindringlich redet seine Schönheit! Ich will vor mir und der Welt nicht lügen noch mich belügen lassen. Ich will klar sehen bis ins Letzte und will mein Ende betrachten mit allem Neid und aller Angst, die mich schütteln. Je mehr ich mich von der Welt trenne und mich anklammere an das Los des lebenden Menschen, statt in den alles überdauernden Himmel zu schauen, desto größer wird meine Todesangst. Bewusst sterben bedeutet: die Kluft zwischen uns und der Welt verringern und freudlos und im Bewusstsein, dass die Herrlichkeit dieser Welt für immer vorbei ist, das Ende auf sich nehmen. Und das Klagelied der Hügel von Djemila gräbt mir dies bittre Wissen tief in die Seele.
     
    Gegen Abend machten wir uns auf den Heimweg und stiegen die Hänge wieder hinauf, die ins Dorf führen. Wir hörten, wie jemand erklärte: »Dies hier ist die Heidenstadt, und dieser Teil, der von ihr wegdrängt, gehörte den Christen. Später …« Ja, so war’s. Menschen und Gesellschaftsformen sind hier aufeinandergefolgt, und Eroberer haben die Spuren ihrer Unteroffizierskultur dem Lande aufgedrückt. Sie hatten niedrige Vorstellungen von Größe, die sie an der bloßen Oberfläche ihres »Imperiums« maßen. Das Unbegreifliche ist, dass diese Ruinen dies Ideal so schlicht widerlegen. Denn dieses Skelett einer Stadt, die sich am Abend verliert, dieser Triumphbogen, über den weiße Taubenschwärme kreisen, reden nicht von ehrgeizigen Eroberern. Die Erde ist auf die Dauer stets mächtiger als die Geschichte. Dieser versteinerte, im Schweigen der Berge und des Himmels verlorene Schrei, Djemila – ich verstehe, was er verkündet: Helle und Gleichmut, die wahren Zeichen der Verzweiflung wie der Schönheit. Das Herz schrumpft ein vor dieser Größe, die wir bereits verlassen. Djemila bleibt hinter uns unter seinem klaren, trauernden Himmel. Jenseits der Hochebene ruft ein ferner Vogel; auf den Hügelabhängen hört man das plötzliche kurze Rascheln der Ziegen; und aus der gelassenen Ruhe des Abends taucht die Steinwand eines Altars mit dem Antlitz eines Hörner tragenden Gottes.

Sommer in Algier
    für Jacques Heurgon
    Unsere Liebe zu einer Stadt ist oft eine heimliche Liebe. Städte wie Paris
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