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Hirngespenster (German Edition)

Hirngespenster (German Edition)

Titel: Hirngespenster (German Edition)
Autoren: Ivonne Keller
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mir Nachrichten nicht aus, lachte über meinen Kleidungsstil, der ihr zu ökomäßig war. Ich hatte mir eine Schultasche aus Schweinsleder gekauft, die wurde so schön speckig mit der Zeit. Mir gefiel das. Sie fand es »prolomäßig«.
    Mit der Zeit regte sich Widerstand in mir. Die Trauer wich einer inneren Wut. Ich begann, mich gegen die Ältere aufzulehnen, die sich benahm wie die Prinzessin auf der Erbse. Jeder um sie herum versuchte, sie für ihr verlorenes Jahr zu entschädigen. Ich nicht mehr.
    »Es kann nicht jeder so spießig rumlaufen wie du«, sagte ich und betrachtete demonstrativ ihre weißen Primaballerinas.

    Als Anna nach dem Realschulabschluss die Schule verließ und eine Lehre als Schneiderin begann, verfügte sie inzwischen über ein eigenes Bad unter dem Dach (»Es ist so weit nachts, wenn ich aufs Klo muss. Irgendwann falle ich noch die Treppe runter!«) und einen eigenen Fernseher (»Ich finde schon, dass ich jetzt als Berufstätige einen eigenen Fernseher haben sollte.«).
    Eines Nachmittags, als ich mit einer Zeitschrift auf unserer Terrasse saß, sagte sie plötzlich: »Aus deinem Zimmer könnte man eine Küche machen, hat Papa gesagt. Die Wasseranschlüsse liegen schon.«
    Ich sah erstaunt auf. »Aha. Und wo soll ich dann hin?«
    »Doch nicht jetzt, Silvie! Aber wenn du deine Lehre fertig hast und danach ausziehst, dann wird dein Zimmer meine Küche.«
    Ich war zunächst einmal sprachlos. War ich etwa ihre Marionette und hatte zu tun, was sie sagte?
    »Ich will gar keine Lehre machen, Anna, ich mache Abitur«, erklärte ich seelenruhig und blickte wieder in meine Zeitschrift. Es wurde langsam Zeit, dass ich meine eigenen Entscheidungen traf. Schon länger hatte ich heimlich mit diesem Gedanken gespielt, obwohl ich gerade die ersten Bewerbungen für eine Ausbildung in einer Buchhandlung abgeschickt hatte. Ich las gerne und viel, Deutsch war mein Lieblingsfach. Ein Job mit Büchern würde mir sicher Spaß machen. Aber wenn ich Abitur machte, hatte ich mehr Möglichkeiten, konnte sogar noch studieren.
    »Aber ich habe kein Abitur!«, rief Anna.
    »Nicht mein Problem«, erklärte ich, erhob mich aus dem Terrassenstuhl und legte die Zeitschrift auf den Tisch. »Ich mache einfach mal das, was ich will.«

    Während Anna in ihrer Schneiderlehre aufging, wechselte ich auf die Oberstufe und lernte dort Johannes kennen. Ich stand auf Pink Floyd und trug selbstgestrickte Pullover und Camelboots. Ich konnte viele Beatles-Songs auf der Gitarre spielen und war auf jeder Spontanparty am Ufer eines der umliegenden Seen gern gesehen; selbst die Jungs sangen lauthals mit, wenn sie gekifft hatten. Johannes hatte ein Austauschjahr in den USA verbracht – in seinen Kapuzenpullis und mit seiner Baseballkappe passte er überhaupt nicht zu unserem Trupp aus Jutetaschenträgern. Die Jungs, mit denen ich auf Partys knutschte und die mir beibrachten, wie man eine Bierflasche mit dem Feuerzeug öffnet, trugen speckige Jeans und löchrige T-Shirts und jobbten an Tankstellen. Er schloss sich uns an, indem er sich in den Pausen zu uns in die Raucherecke gesellte. Die Arme verschränkt, lauschte er unseren Gesprächsthemen, die wir für intellektuell hielten: Politik, Umweltschutz, Emanzipation. Ich fragte mich, warum er sich uns anschloss, wo wir doch seine tollen Erfahrungen nicht teilten, die er in Amerika gemacht hatte. Er hatte die große weite Welt gesehen, wir nur die kleine Welt zwischen Hanau und Büdingen. Ich dachte, er wird sich bald seinesgleichen suchen.
    Aber er wusste gar nicht, wer seinesgleichen war.
    Eines Sommerabends auf einer Party am Seeufer, da rief er plötzlich über die Köpfe aller hinweg: »Hey, Silvie!?«
    Ich sah von der Gitarre auf und strich mir eine blonde Haarsträhne aus der Stirn. Der Typ kannte doch tatsächlich meinen Namen.
    »Kannst du Wish you were here von Pink Floyd spielen?«, fragte er hoffnungsvoll, aber es klang für mich dennoch von oben herab, so nach dem Motto: Kannst du doch eh nicht!
    Ich bedachte ihn mit einem Zucken der Augenbraue und antwortete: »Aber nur, wenn du mitsingst.«
    Dann begann ich mein Spiel. Es lag mit Sicherheit am Haschisch, dass mir kein einziger Patzer unterlief. Besonders das Intro hat es in sich; ich hatte es ewig üben müssen und war oftmals daran verzweifelt. An diesem Abend konnte ich den Song von vorn bis hinten ohne einen einzigen Fehler durchspielen. Johannes sang nicht mit. Er wischte sich verstohlen die Augen, und ich war nicht so
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