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Herr: Die Schattenherren 3 (German Edition)

Herr: Die Schattenherren 3 (German Edition)

Titel: Herr: Die Schattenherren 3 (German Edition)
Autoren: Robert Corvus
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sehen?«
    »Ich bin hier«, sagte eine Stimme, vollkommener als der Gesang des großen Chors, wenn er in der Tiefe der Kathedrale erklang.
    Chialla brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie niedergekniet war, wie auch die anderen Menschen. Nur Velon stand noch. Er verbeugte sich vor der Frau, die jetzt ins Sternenlicht trat.
    Tränen trübten Chiallas Sicht. Sie hatte von Lisannes Schönheit gehört, aber vor ihrem Anblick endete das Denken. Ihre Gestalt überforderte den Verstand. Die Linien, die unter dem nachtschwarzen Kleid zu erkennen waren, verhöhnten in ihrer Perfektion alles, was Götter geschaffen haben mochten. Die Haut war makellos wie Schnee. Die Züge ihres Gesichts waren von unnahbarer Vollkommenheit, die Augen … oh, wenn sie sie ansähen, müsste Chialla sterben! Sie war so unwichtig, so nichtswürdig …
    Lisanne sah zu Tasor hinauf. »Wo warst du, als Bren Helion erschlug?«
    »Ich hatte Freiwache«, gurgelte er. »Ich war unter jenen, die Bren in Gewahrsam nahmen!«
    »Zur rechten Zeit warst du nicht dort, wo du einen Wert gehabt hättest«, stellte Lisanne fest. »Du hast versagt.« Damit wandte sie sich ab.
    Die Menschen erhoben sich erst, als die Schattenherzogin wieder im Dunkel des Palasts verschwunden war.
    Mit sichtlicher Mühe drehte Tasor den Kopf, bis er Chialla anstarren konnte. »Bringt sie um!«, röchelte er. »Ich will sie sterben sehen!«
    Eisbart zog sie zu sich. Sie schmiegte sich an seinen Arm, sodass er ihre Brüste spüren musste. Ihr Herz tönte so laut in ihren Ohren wie die Hammerschläge zuvor.
    Velon schüttelte den Kopf. »Die Ergebenheit zu den Schatten hat sie zur Verräterin gemacht. Und die Gier. Ich habe wohl gesehen, wie sie deinen Besitz mustert. Solche Untertanen wünschen wir uns. Sie ist ein Vorbild für das Volk.«
    »Nein! Lasst ihre Hoffnung zunichte werden! Reißt ihr die Gedärme aus dem Bauch!«
    Lächelnd schüttelte Velon den Kopf. »Schweig jetzt. Du hast genug von unserer Zeit beansprucht. Es gibt andere, denen Lisanne ihre Aufmerksamkeit zu schenken wünscht.«
    »Wenn du nett zu mir bist«, raunte Eisbart Chialla zu, »sollst du außer den Waffen alles haben, was in seinem Sack ist.«
    Sie küsste seinen faltigen Hals.
    Nun blieb Tasor nichts mehr. Nichts, als seinen Schmerz in die Nacht hinauszuschreien, so schön er konnte, in der Hoffnung, dass Lisanne seinen letzten Gesang hörte.

A BENDDÄMMERUNG
    B ücher konnten gefährlicher sein als Waffen. Die zentralen Lehren des Kults waren im Buch der Schatten aufgezeichnet, dessen Lektüre jede Nacht Zehntausende tiefer in die Finsternis zog. Die Bibliotheken der Osadroi waren gefüllt mit Büchern, in denen Wissen lauerte, das die Götter niemals hatten enthüllen wollen. Pfade zu Kräften, die der Harmonie der Natur Hohn sprachen, ihre Gesetze brachen und dem Willen der Magier unterwarfen, die nur allzu begierig ihre Seelen gegen Macht tauschten.
    Macht, das wusste Nalaji, war die Möglichkeit, andere zu zwingen, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollten. Zum Beispiel ihre Lebenskraft zu nehmen und sie dafür zu verwenden, einen Berghang abrutschen zu lassen oder einen Rappen in ein Schattenross zu verwandeln.
    Doch es gab auch Bücher, deren Gefährlichkeit weniger von dem ausging, was in ihnen geschrieben stand, als von dem Umstand, dass die Herrschenden angeordnet hatten, jedem die Augen auszustechen, der sie las. Die Schriften, die Nalaji und Narron im dürftigen Licht rußender Talgkerzen studierten, gehörten dazu. Nalaji hätte die Mondmutter um milde Strahlen von Silions silberner Helligkeit bitten können, die sich dann gleichmäßig aus der gewölbten Decke der kleinen Kammer ergossen hätten, aber das wäre leichtsinnig gewesen. Orgait, die Metropole der Schattenherren, wimmelte von Wesenheiten, die die Wunderkraft der Götter schon deswegen aufspüren konnten, weil sie ihnen körperliche Schmerzen bereitete. Auch mit siebzig Jahren war Nalaji noch nicht lebensmüde.
    Ihre Hände zitterten, wenn sie die Seiten umblätterte. Andere Frauen in ihrem Alter zitterten ständig, vor allem hier im Norden, wo die Kälte in die Knochen kroch. Aber ihr und ihrem Gemahl hatte die Göttin ihre Güte erwiesen. Nur sanft hatten sich Falten in ihr Gesicht gemalt, und sie brauchte noch nicht einmal einen Stock, wenn sie Treppen stieg.
    Während sie an den verklebten Seiten nestelte, huschte ihr Blick zu Narron. Ihr Mann war ihr ein paar Jahre voraus, aber die Kraft seiner Jugend hatte ihn nie ganz
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