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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel
Autoren: Charles de Lint
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Tony und ihre Mutter.
    »Hallo, Ali.«
    Ali drehte den Kopf und sah das wilde Mädchen an der Ecke der Hütte stehen. Mally griff in die Tasche ihrer viel zu großen Jacke, zog ein Taschenbuch heraus und reichte es Ali.
    »Das ist für dich.«
    Ali hielt es in den schwachen Lichtschein, der aus der Hütte nach draußen fiel. Es war eine Ausgabe von Thomas Burnett Swanns Wolfswinter .
    »Oh!« rief Ali aus. »Woher wußtest du, daß ich nach diesem Band gesucht habe ...« Ihre Stimme erstarb, als ihr klar wurde, daß sie es nur auf dem Grunde nicht finden konnte, weil Mally es früher ›gefunden‹ hatte.
    »Danke«, sagte sie nur.
    Mally hockte sich neben sie. »Du hast mit dem Mysterium gesprochen, nicht wahr?«
    Ali nickte.
    »Ich habe auch mit ihm gesprochen. Ich wußte nicht mal, daß es sprechen konnte. Was hat es zu dir gesagt? Hast du es gefragt, ob es frei sein will?«
    »Es sagte, es sei schon frei.«
    »Warum bleibt es dann hier? Warum läßt es sich von der Meute hetzen?«
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte Ali. »Vielleicht deshalb, weil es gleichzeitig frei und doch nicht frei ist.« Sie sah das wilde Mädchen an. »Es ist nicht selbst das wirkliche Mysterium, Mally. Es ist nur Teil eines viel größeren Mysteriums.«
    Mally nickte. »Ein Teil von diesem anderen Ort, diesem Irgendwo.«
    »Von diesem anderen Ort«, pflichtete Ali ihr bei, »aber auch von hier. Das Mysterium hier in dieser Welt - es ist auch ein Teil davon. Es gibt mehr als nur eins davon.«
    »Ich frage mich warum«, sagte Mally.
    »Es muß doch nicht immer alles erklärt werden«, gab Ali zu bedenken.
    Mally sah sie an, und ein breites Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht.
    Frankie war unter die Tür getreten und hatte ihre Unterhaltung zum größten Teil mitbekommen. Sie dachte wieder an die Qualen der letzten Tage, aber dann schaute sie zum Wald und dachte nur noch an ihn, an diese Lichtung mit dem alten Stein, die sie nur so kurz gesehen hatte, an das Dorf, an Lewis, an Tony. In diesem Moment drang vom Wald, von der Lichtung und von dem aufrecht stehenden Stein die sanfte Musik von Tommys Flöte zu ihnen herüber.
    Frankie dachte an das, was Ali ihr von ihrer Begegnung mit dem Mysterium an jenem anderen Ort erzählt hatte, an einem Ort, der nicht im Hier und Jetzt lag, sondern Irgendwo, Irgendwann. Ein geheiligter Ort, ein friedvoller Ort. Was sie hier vor sich sahen, in einer kleinen Lücke der Wildnis von Lanark County, war nur ein Echo davon. Aber wenn sie nur das Echo haben konnten, mußte ihnen das Echo eben genug sein.
    Pans Flöte spielte, und wenn auch das Mysterium selbst sie nicht spielte, so war es doch seine Musik. Frankie wollte diese Musik hören, für immer, zusammen mit Ali, zusammen mit Tony. Es schien, daß die schlimmen Zeiten vorüber waren. Zwischen ihr und Tony gab es unausgesprochene Dinge, die jetzt ausgesprochen werden durften. Aber da war noch eine Sache, die getan werden mußte.
    »Zeit zu gehen«, sagte sie sanft zu Ali.
    Ali drehte den Kopf und sah zu ihrer Mutter auf. »Wohin?«
    »Zurück. Jemand muß der Polizei alles erklären. Mit etwas Glück können wir sie davon überzeugen, daß Earl und diese Männer eine Schießerei miteinander hatten, und Tony ganz aus der Geschichte heraushalten. Wir werden ihnen nur die halbe Wahrheit sagen - daß sie hinter dem Wintario-Geld her waren.«
    Frankie trug nicht mehr die Automatik, hatte aber immer noch die .38er in der Tasche. Jetzt hob sie die Armbrust auf, die neben der Tür an der Wand lehnte.
    »Vielleicht wird es noch mal ein bißchen schwierig«, fügte sie hinzu, »denn wenn es sein muß, werde ich sagen, daß ich Earl erschossen habe.«
    Ali schluckte, nickte aber dann. »Sie werden doch bestimmt feststellen, daß es Notwehr war, oder?«
    »Ich hoffe es, Ali. Und jetzt komm. Wir müssen gehen.«
    »Aber wir kommen doch wieder hierher?«
    Ali betrachtete ihre Mutter, die sich jetzt umdrehte und zum Bett hinübersah, in dem Tony lag. »Worauf du dich verlassen kannst, Schätzchen. Ich weiß nicht, wie sich alles entwickelt zwischen ihm und mir. Aber wenn es nicht gut endet, dann bestimmt nicht, weil ich es nicht versucht hätte.«
    »Und was er einmal gewesen ist - es ist nicht wichtig?«
    »Ist es wichtig für dich?«
    Ali schüttelte den Kopf.
    Frankie lächelte und trat aus der Tür. »Nun, für mich ist es wichtig. Es ist wichtig zu wissen, welch ein Mensch jemand war. Aber noch wichtiger ist es zu wissen, wer er jetzt ist. Ergibt das für dich
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