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Grenzwärts

Grenzwärts

Titel: Grenzwärts
Autoren: Oliver G. Wachlin
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eine Windmühle, und auch ihr Name gab Anlass zu Spott: Julia Latte. Vor allem uns Jungs fiel dazu immer etwas ein.
    Obwohl Julia eigentlich besser in der Schule war als wir Übrigen, bekam sie schlechtere Noten. Ihre Eltern seien Künstler, hieß es, politische Querulanten und Nestbeschmutzer, die in der Hauptstadt nicht mehr tragbar waren und Berlinverbot bekommen hatten. Klar, dass sich die Lehrer daran abarbeiteten. Vor allem Katenbach tat sich dabei hervor. Er war einer dieser typischen Kasernenhofschwimmlehrer, vor dem sich immer alle graulen. Man sieht solche Typen heute noch ab und zu bademeistern und fragt sich, warum die hier und nicht auf dem Balkan sind. Julia hatte eine attestierte Chlorallergie und wollte deshalb nicht ins Wasser. Katenbach ließ das nicht gelten und schiss das Mädchen vor der versammelten Klasse ordentlich zusammen, bevor er es mit einem seiner gefürchteten Weitwürfe ins Becken beförderte.
    Julia konnte nicht schwimmen. Sie wäre vor aller Augen abgesoffen, wenn ich nicht hinterhergesprungen wäre und sie rausgezogen hätte. Zum ersten Mal tat sie mir leid. An ihrem ganzen Körper hatte sie rote Pusteln vom Chlor, sie bekam kaum noch Luft, und ihr Gesicht war zu einer blauroten Grimasse zusammengeschmolzen. Ich hatte plötzlich so einen Hass auf den perversen Katenbach, der das heulende Elend auch noch hämisch verhöhnte. Ich war außer mir vor Wut. Ich rastete regelrecht aus und schlug den Schwimmlehrer zusammen. Katenbach ging sofort zu Boden, und ich trat so lange auf ihn ein, bis er sich nicht mehr rührte.
    Die Jugendstrafkammer verurteilte mich zu einem Jahr auf Bewährung wegen schwerer Körperverletzung. Es hätte schlimmer ausgehen können, Jugendwerkhof oder so was, aber das Gericht wollte mir noch eine Chance geben. Ich musste lediglich die Schule wechseln und gemeinnützige Arbeit leisten. Viermal wöchentlich hatte ich Essenskübel durchs Altenheim zu schleppen, musste zugeschissene Klos putzen und bettlägerige Greise wenden. Ich trug es mit Fassung, denn ich hatte eine Mission zu erfüllen. Eine Mission, die darin bestand, Julia zu beschützen. Wer immer es wagte, dem Mädchen etwas anzutun oder es auch nur zu beleidigen, bekam es mit mir zu tun.
    Fortan waren wir unzertrennlich. Einen ganzen Sommer verbrachten wir am Baggersee, einer verlassenen Tagebaugrube am Rande der Stadt. Wir rauchten die ersten Zigaretten und tranken den billigen Fusel aus der  HO -Kaufhalle. Wir redeten über alles, was uns bewegte. Es gab keine Geheimnisse zwischen uns, und wir hatten beide das Gefühl, ohne den anderen nur zur Hälfte zu existieren.
    Natürlich gab es auch mal Streit, zum Beispiel wegen Jule Neigel, einer Rocksängerin, die außer Julia wahrscheinlich nur Leute aus dem Westen kannten. Wochenlang lief nur noch Neigels »Schatten an der Wand« in Julias Sternrekorder, und ab sofort wollte sie Jule genannt werden, was ich total bescheuert fand. Denn die Neigel hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihr, im Gegenteil. Auf dem Poster in Julias Kinderzimmer hatte sie braune Locken und sah eher südländisch aus, irgendwie spanisch-italienisch conchitamäßig. Und so kam Julia zu ihrem zweiten Namen: Conchitababy.  Hasta la vista, olé!
    An ihrem vierzehnten Geburtstag verbannte Julia ihre Zahnspange für immer aus dem Mund. Auch wollte sie plötzlich tanzen gehen, samstags ins Klubhaus zur Disco, und ich musste dann ihre Brille verstecken. Dabei war Tanzen so gar nicht mein Ding. Deshalb meldete Julia uns an der Tanzschule an. Jeden Mittwochnachmittag fuhren wir mit dem Bus nach Görlitz ins »La Habanera«, einer Schule für lateinamerikanische Gesellschaftstänze. Tango, Salsa, Bossa Nova. Vor allem beim Tango bekam ich Schweißausbrüche. Und einen Steifen, wenn Julia sich mit ihren jungen, festen Brüsten an mich schmiegte. Manchmal kicherte sie, dann hatte sie es bemerkt. Mir war es peinlich. Und als wir uns ansahen, waren wir beide knallrot im Gesicht.
    Auch den anderen Jungs fiel irgendwann auf, dass Julia schöne weibliche Formen bekommen hatte, und ich war froh, dass sie die begehrlichen Blicke nicht bemerkte, weil sie kurzsichtig war. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass sie sich verliebte. Ausgerechnet in Roland, den Klassenprimus aus der Zehnten, der Julia immer als die Verhinderung seiner Morgenlatte verhöhnt hatte.
    Eigentlich war es kein Wunder, denn in Roland waren alle Mädchen verliebt. Er sah gut aus, trug immer die neuesten Klamotten aus dem Westen
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