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Gefluesterte Worte

Gefluesterte Worte

Titel: Gefluesterte Worte
Autoren: Carmen Sylva
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könntest ihn ganz wohl verstehen, wenn du deinen Lohn nicht immer für zu gering, deine Strafen aber für zu schwer, wenn nicht gar für vollkommen unverdient hieltest. Versuche es doch, dich willenlos führen zu lassen, von einem Tag zum andern zuzusehen, wie wunderbar die Fügungen ineinander greifen. Es gab einen Mann, der jeden Abend die Freuden aufschrieb, die er an einem Tage gehabt, und am Ende von nur einem Jahre beschämt sah, wieviel es gewesen.
    Du aber, liebe Seele, verzeichnest nichts als dein Leiden, und nie eine Freude, da sie dir unbedeutend erschien. Deine Leiden sind groß, wer wollte das Gegenteil behaupten! Aber es hat mancher Sonnenstrahl dein Zimmer erhellt, und manche Blume an deinem Wege gestanden, und du hast nicht gedankt!
    Der Sturmwind ist vielleicht blind, der den Wald lichtet und morsche Baumriesen entwurzelt, aber das war kein blindes Gesetz, das ihn blasen hieß, damit für den Jungwald Platz, Licht und Luft geschaffen würde. Du verwechselst dein Schicksal mit Dem, der es lenkt, odermit denen, die angestellt sind, über dich zu wachen, und dich nicht zu Schanden werden lassen. Weißt du so gewiß, daß der alte Kinderglaube an Schutzengel und Penaten so sehr kindisch oder abergläubisch gewesen ist? Wäre es nicht möglich, daß die Menschheit hier die Wahrheit geahnt hat, und daß es Wesen gibt, die zu ihrem Schutz hilfreich hingestellt sind, ihre Angst kennen, ihre Gebete sammeln, ihre Leiden buchen, und ihre Kraft im Tragen und Leisten zu prüfen haben? Wir haben in unschuldigeren Zeiten vielleicht Wahrheiten gewußt oder geahnt, die uns heute verloren gegangen sind, und unserm erbitterten Gemüt ist es leichter von Zufall und von Prüfungen zu sprechen. Dann stand Hiob höher als wir, darum auch redete Gott mit ihm und klärte ihn auf über die Weisheit seiner Wege!
     

Das Gewissen
    Ein Gefühl von beständigem schlechten Gewissen, doch ohne Schuldbewußtsein, ist deine quälende Pein, liebe Seele. Das ist aber nicht, weil du dir mehr Vorwürfe zu machen hättest als andere Menschen, sondern vielmehr weil dein Gemüt zu viel Druck erlitten hat, vielleicht von Kind auf, durch eine zu harte Erziehung, vielleicht in der Ehe, vielleicht in dem Dienstverhältnis unter einem zu harten Herrn oder einer zu schwierigen Herrin: Und bist du selbst Hausfrau, so ist Unfrieden in deinem Hause, unter dessen Bewohnern oder Gästen, genug, um dir ein Unbehagen in der Herzgrube zu verursachen, das genau einer Art von schlechtem Gewissen ähnlich sieht. Oder du fürchtest, unwissentlich und ungewollt etwas Kränkendes gesagt zu haben, oder du möchtest vor dem all zu strengen Herrn kleine Vergehen, die im Hause vorgekommen sind, verbergen. Das schlechte Gewissen hat hundert Gründe, manchmal sogar körperliche Herzschwäche oderschwache Verdauung. Immer liegt dem widerwärtigen Gefühl eine Schwäche zu Grunde, oft nur in der Kindheit erduldete Härte, die sich dem Gehirn eingeprägt hat. Es ist überaus schwer zu bekämpfen, nicht wahr, liebe Seele? Es ist wie irgend ein körperlicher, neuralgischer Schmerz, dessen Wiederkehr man kommen fühlt und nicht verhindern kann. Man klagt sich großer Schwäche und Zaghaftigkeit an, man findet sich kleinmütig, feige, entwürdigt oder zum mindesten würdelos, aber das schlechte Gewissen nimmt den Atem wie ein Alb, die Eßlust wie ein Examen, raubt die Gedanken wie Gespensterfurcht und den Schlaf wie eine böse Tat. Dann möchtest du dem Gefühl einen Namen geben, und quälst dich nächtelang, was du könntest gesagt haben, das töricht oder unfreundlich war. Es braucht für ein zartes Gemüt so wenig, um es nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Und mit Neid sieht man denen zu, die die Kappe in die Luft werfen können und singen: »Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist!« – Aber der mit schlechtem Gewissen gebaute Mensch kann nie vergessen. Für den Augenblick bleibt jeder kleinste Mißgriff ein ewiger, nagender Vorwurf.
    Man sollte das bekämpfen, wie einen Fehler. Man sollte suchen, seinem Gemüte einen kräftigeren
biceps
anzuüben, auf daß es seine Lasten leichter heben und tragen könne.
    Das ist kein Trost zu denken, daß Menschen, die dir wirklich schlecht vorkommen, kein schlechtes Gewissen zu haben scheinen. Erstens sind sie vor sich selbst nicht so schlecht wie vor dir, und zweitens erzählen sie dir nichts von ihrem Gewissen, sie behalten das für sich und tragen es allein, gerade so wie du. Sie betäuben es sogar durch die
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