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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya
Autoren: Maria Blumencron
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Kinder, die alles in Tibet zurücklassen mußten.
    »Warum schicken die Eltern sie alleine fort? Warum gehen sie nicht mit nach Indien?« fragte ich Tsering. Diese Frage beschäftigt mich, seit ich die Bilder von den beiden erfrorenen tibetischen Kindern im Fernsehen gesehen habe.
    »Die meisten Menschen in Tibet sind Bauern oder Nomaden. Sie leben von ihren Tieren oder ihrem Grundbesitz. Sie haben sonst keinerlei Ausbildung. Für einen Erwachsenen ohne Qualifikationen ist es in einem überbevölkerten Entwicklungsland wie Indien kaum möglich, sich eine neue Existenz aufzubauen. Also schicken sie ihre Kinder. Ein anderer Grund ist die tibetische Großfamilie: In Tibet gibt es keine Altersheime wie bei euch. Würden die Eltern dieser Kinder auswandern, ließen sie ihre Alten schutzlos zurück.«
    Die Alten. Es stimmt, was Tsering sagte. In unserer Kultur werden sie einfach abgeschoben. Zurückgelassen. Wie meine alte Oma in Österreich. Sie hatte fünf Kinder. Ich war ihr ›sechstes‹. Und dann bin ich nach Deutschland gegangen, weil es da für mich als Schauspielerin mehr Chancen gab. Sie muß sehr traurig gewesen sein, aber sie zeigte nur ihre aufrichtige Freude über mein erstes Engagement an einem richtigen Theater!
    »Nur zwei Jahre«, habe ich ihr gesagt. »Zwei Jahre lerne ich richtiges Hochdeutsch da oben bei den Piefkes, und dann komme ich wieder zu dir zurück.«
    »Dann wirst du Brötchen statt Semmel sagen und Tüte statt Sackerl.«
    »Ich werde nie Brötchen sagen, Omili.«
    »Wie werden sie dich da oben nennen? Zazie oder Maria?«
    »Maria. Die Deutschen haben es nicht so mit den Spitznamen wie wir.«
    »Für mich wirst du immer das Zazili bleiben – auch wenn du berühmt bist.«
    »An einer Provinzbühne wird man nicht berühmt, Omili – auch nicht in Deutschland.«
    Dann hat Oma mir ein recht seltsames Abschiedsgeschenk gegeben: feine, seidene Unterwäsche – viel zu sexy für ein Omageschenk. Wahrscheinlich dachte sie, daß man so was braucht bei den Piefkes. Als sie dem Taxi hinterherwinkte, das mich zum Bahnhof bringen sollte, leuchtete ihr Haar noch weißer als sonst.
    Das war vor sieben Jahren. Ausgerechnet hier in Ladakh treibt mir die Erinnerung an diesen Abschied endlich die Tränen in die Augen, die ich damals so tapfer heruntergeschluckt habe.
    Ich hasse Abschiede. Sie sind das schmerzhafteste Geschenk Gottes.
    Meine liebe Oma. Bevor wir morgen in die Berge aufbrechen, werde ich sie noch schnell von einem der vielen kleinen Telefonläden in Leh anrufen.

Chime und Dolker, die beiden Schwestern
    » Meine Mutter ist der Mensch, der uns alles gegeben hat: Liebe, Erziehung, Essen und Kleidung. Sie lehrte uns auch gutes Benehmen. Oft lieh sie sich Geld von den Nachbarn, damit sie uns Kindern eine Freude machen konnte. Sie spielte viel mit uns: Seilspringen und Aupo – das Spiel mit den Steinen. Sie erzählte uns viele Geschichten, und sie backte das beste Brot. Sie konnte wunderbar weben und nähte alle Kleider selbst. Sie war aber auch eine gute Tänzerin und Sängerin. Zu Losar, wenn die ganze Familie zusammenkam, trug sie uns ihre Künste vor. Sie machte viele Witze und schien immer glücklich zu sein – auch wenn sie es nicht war.
    Mein Vater war ein guter Mann, aber er liebte es, zu spielen. Ich habe gehört, daß er ein Mensch war, den die Leute früher sehr schätzten. Aber dann verspielte er eine Menge Geld und brachte Armut in unser Haus. Deswegen hatte meine Mutter immer große Geldprobleme.
    Ich vermisse meine Mutter sehr. Sie arbeitete so hart für uns! Sie war es, die unsere Familie zusammenhielt. Und ich hoffe, daß ich sie später einmal glücklich machen werde … «
CHIME
    Ein rotbrauner Drache windet sich mit Anmut auf dem hellen Porzellan der Tasse, die Vater einmal von einer Geschäftsreise aus Xining mitgebracht hat. Das war zu einer Zeit, als er noch Geld für Geschenke und Zeit für seine Kinder hatte. Amala flocht bunte Steine in ihr schwarzes Haar, und aus jeder Ecke des Hauses strahlte das Glück der Familie.
    »Mit seinem Feuer beschützt der Drache den kostbaren Inhalt der Tasse«, erklärte Ama den Kindern und stellte sie behutsam auf das oberste Regal in der Küche. Und wenn sie nach ihren Einkäufen auf dem Markt noch ein paar Münzen übrig hatte, ließ sie diese mit eifrigem Geklimper in die Drachentasse fallen. Es gab immer etwas, wofür Amala sparte: Lampions für ein Schischi – ein großes Fest im Freien, ein Festmahl für Losar, ein neues Kleid für
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