Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Esquivel, Laura - Bittersuesse Schokolade

Esquivel, Laura - Bittersuesse Schokolade

Titel: Esquivel, Laura - Bittersuesse Schokolade
Autoren: Laura Esquivel
Vom Netzwerk:
ihrer Kindheit niemals recht zu unterscheiden lernte, ob nun Freudentränen vergossen wurden oder ob die Tränen vor Kummer flossen. Für sie bedeutete das Lachen eine Art zu weinen.
    Ebenso verwechselte sie die Lust zu leben mit dem Genuß beim Essen. Für jemanden, der das Leben nur im Umkreis der Küche kennengelernt hatte, war es nicht leicht, die Welt außerhalb dieses kleinen Reiches zu verstehen; das heißt die riesige Welt, die hinter der Küchentür begann und die gesamten Innenräume des Hauses umfaßte. Denn das Terrain jenseits der Hintertür, die zum Patio, zum Garten und zu den Gemüsebeeten hinausführte, war ihr bis in den letzten Winkel vertraut, ja hier war sie die unumstrittene Herrin. Anders als Tita war ihren Schwestern dieser Bereich, in dem, wie sie argwöhnten, zahllose unbekannte Gefahren lauerten, nicht geheuer. Die Spiele innerhalb der Küche erschienen ihnen nicht nur albern, sondern auch gefährlich; freilich ließen sie sich eines Tages von Tita davon überzeugen, daß es ein faszinierendes Schauspiel sei, wenn man Wassertropfen auf den glutheißen Comal spritzte und sie wie wild darauf tanzen ließ.
    Doch während Tita sang und rhythmisch ihre nassen Hände schüttelte, damit die Tropfen rascher auf den Comal herabfielen, um zu »tanzen«, verkroch sich Rosaura, die es schon beim bloßen Zuschauen grauste, in die hinterste Ecke. Ganz anders Gertrudis, die von diesem Spiel, wie überhaupt von allem, was mit Rhythmus, Bewegung oder Musik zu tun hatte, restlos begeistert war und geradezu enthusiastisch mitmachte. So blieb Rosaura schließlich keine andere Wahl mehr, als die Flucht nach vorne anzutreten, denn sie wollte um keinen Preis hinter den anderen zurückstehen. Da sie indes kaum ihre Hände anfeuchtete und sich nur zaghaft am Spiel beteiligte, gelang es ihr nicht, die gewünschte Wirkung zu erzielen. Um ihr zu helfen, versuchte Tita nun, Rosauras Hände näher an den Comal heranzuführen. Rosaura leistete erbitterten Widerstand. Da keine von beiden nachgab, entspann sich ein heftiger Kampf, bis Tita plötzlich die Geduld verlor und Rosauras Hände unvermittelt losließ, woraufhin sie mit dem freigesetzten Schwung mitten auf die glühheiße Fläche niederschnellten. Nicht nur, daß dieses Mißgeschick Tita zur Strafe eine ordentliche Tracht Prügel eintrug, fortan war ihr auch das Herumtollen mit den Schwestern in ihrem Reich aufs strengste untersagt. Folglich blieb ihr nur noch Nacha als Spielkameradin. Gemeinsam vertrieben sie sich damit die Zeit, Spiele und Streiche auszuhecken, die stets etwas mit der Küche zu tun hatten. So etwa an jenem Tag, als sie auf dem Dorfplatz einen Mann entdeckten, der aus länglichen Luftballons Tierfiguren bastelte, und beiden sogleich die Idee kam, ihm nachzueifern, freilich mit Chorizo-Stücken. Sie bauten nicht nur naturgetreue Tiere zusammen, sondern erfanden auch Phantasiegestalten, unter ihnen solche mit Schwanenhälsen, Hundepfoten und Pferdeschwänzen.
    Problematisch wurde es erst dann, wenn sie zum Braten der Chorizos wieder auseinandergenommen werden mußten. Zumeist wehrte sich Tita mit aller Kraft. Einzig wenn es darum ging, die gefüllten Weihnachtstortas zuzubereiten, war es möglich, Tita zum Nachgeben zu bewegen, denn diese Tortas waren ihr Leibgericht. Auf einmal ließ sie nicht nur zu, daß eines ihrer Tiere zerstört wurde, sondern sie hatte auch einen Heidenspaß, wenn sie beim Braten der Wurst zusah.
    Man muß darauf achten, daß die Chorizo-Stücke für die gefüllten Tortas auf kleiner Flamme braten, damit sie richtig garen, ohne jedoch zu kroß zu werden. Sobald sie fertig sind, nimmt man sie vom Feuer und fügt die zuvor entgräteten Sardinen hinzu. Zusammen mit den Sardinen werden die Zwiebel, die gehackten Pfefferschoten  und das zerriebene Oregano untergemischt. Die Masse muß eine Zeitlang ruhen, bevor sie in die Brötchen gefüllt wird.
    Dieser Vorgang bereitete Tita das größte Vergnügen, denn während die Füllung ruhte, war es herrlich, ihren Duft zu genießen, haben Düfte doch die Eigenschaft, vergangene Momente mitsamt ihren nie mehr in gleicher Form erlebten Klängen und Wohlgerüchen Wiederaufleben zu lassen. Tita liebte es, die Luft tief einzusaugen, denn in diesem Dunst nahm sie ein ganz spezielles Aroma wahr, das sie bis in die entferntesten Winkel ihrer Erinnerung zurückversetzte.
    Vergeblich versuchte sie, sich den Moment ins Gedächtnis zu rufen, als sie zum ersten Mal den würzigen Duft einer solchen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher