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Eiskalt Wie Die Suende

Eiskalt Wie Die Suende

Titel: Eiskalt Wie Die Suende
Autoren: authors_sort
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waren mehr durch die Wand zu vernehmen, keine Türen, die geöffnet und geschlossen wurden, keine Schritte, nicht ein einziger Laut, der Leben erkennen ließe. Nur das leise, weit entfernte Ticken der Standuhr im vorderen Salon drang von unten herauf. Sie konnte sich nicht daran erinnern, es jemals zuvor bis in ihr Schlafzimmer gehört zu haben, auch nicht mitten in der Nacht, wenn es ganz ruhig im Haus gewesen war. Doch nie war es so ruhig gewesen wie jetzt.
    Sie stand auf, ging zur Uhr hinüber, die auf dem Kaminsims stand, und versuchte, im schwachen Mondschein die Zeit abzulesen – fast schon ein Uhr morgens. Eigentlich sollte man ja meinen, dass sie, nachdem sie seit bald zweiundzwanzig Stunden wach war und die Nacht zuvor auch nur fünf Stunden geschlafen hatte, viel zu erschöpft wäre, als dass sie trotz der beängstigenden Unruhe, die sie erfasst hatte, nicht einschlafen konnte.
    Das Haar hing ihr schwer und feucht in den erhitzten Nacken, und sie suchte in der obersten Kommodenlade nach einem Samtband, um es sich aufzubinden. Als sie in ihrer kleinen Kollektion von Handschuhen, Kragen und Bändern kramte, stieß sie auf einen ordentlich gefalteten, in feines Papier gewickelten Seidenschal, den sie weit hinten in der Schublade verwahrte – den Schal, den Will Hewitt getragen hatte, als sie ihn im Januar das letzte Mal gesehen hatte.
    Nell war an jenem eisig kalten Morgen zum Bahnhof gekommen, um sich von Will zu verabschieden, der mit dem Zug nach San Francisco und von dort weiter mit dem Dampfschiff nach Shanghai fahren wollte. Es würde eine lange und anstrengende Reise werden, die vielleicht Jahre dauerte und auf die er sich keineswegs freute, die ihm aber unabänderlich geboten schien, um etwas Abstand zu gewinnen.
    Sein Abschied aus Boston bedeutete nicht nur, dass er sie und Gracie verließ, sondern auch seine Stelle als Professor für Gerichtsmedizin an der Harvard Medical School aufgab – obwohl sie ihm, wie Nell wusste, sehr viel bedeutete. Sie hatten nie offen über die Gründe gesprochen, die ihn zu der Reise bewegt hatten, über die tiefen Gefühle, die sich in den fast drei Jahren ihrer Bekanntschaft zwischen ihnen entwickelt hatten. Nur konnten diese nirgendwohin führen, war sie doch leider Gottes bereits verheiratet. Als Katholikin kam eine Scheidung für sie nicht infrage, denn sollte sie sich scheiden lassen und jemals wieder heiraten, würde sie exkommuniziert werden. Und so hatte Nell sich damit abgefunden, bis an ihr Lebensende eine alte Jungfer zu bleiben, denn eine Liebschaft ohne ehelichen Segen zu unterhalten könnte sie ruinieren, sollte es jemals bekannt werden. Sie würde ihre Stelle als Gouvernante verlieren und ihr Zuhause bei den Hewitts, was schlimm genug sein würde, doch das Schlimmste wäre, dass sie auch Gracie aufgeben müsste.
    Will hatte das verstanden und sich schließlich für einen längeren Aufenthalt fern von Boston entschieden. Auf diese Weise, so hoffte er, konnten sie beide etwas Erleichterung erfahren und waren nicht mehr beständig dem Dilemma ausgesetzt, zwar Zeit miteinander zu verbringen, letztlich jedoch nie wirklich zusammen sein zu können. Er war überrascht gewesen, sie an jenem Morgen am Bahnhof zu sehen – und mehr noch, als sie ihn dann an das Angebot erinnerte, welches er ihr in einem schwachen Moment gemacht hatte: ein Kuss von ihr – nur einer, niemals wollte er um einen zweiten bitten –, und er würde in Boston bleiben. Danach würden sie so weitermachen wie bisher, nie mehr von all dem sprechen, was besser ungesagt blieb. Mit dem Kuss sollte es gut sein und ein Ende haben.
    Aber der Kuss war keineswegs das Ende von allem gewesen, sondern ein Versprechen, das so viel mehr verhieß. Er war wunderbar und überwältigend gewesen, das Eingeständnis eines geheimen Verlangens, das niemals hätte offenbar werden sollen. Eine Tür war aufgestoßen worden, und ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, wussten sie beide, dass Nell alles verlieren könnte, wenn sie hindurchgingen.
    Und so war Will in letzter Minute noch auf den abfahrenden Zug aufgesprungen, ihretwegen, und sein Schal war davongeweht, als er den Bahnsteig entlangrannte. Nell hatte den Schal aufgehoben – sie erinnerte sich noch, wie ihre tränenfeuchten Wangen in der eisigen Kälte gebrannt hatten –, und ihn mit nach Hause genommen. Ebenso wie seinen Zylinder,
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