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Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)

Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)

Titel: Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)
Autoren: Ansgar Warner
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mir die merkwürdige Installation auf dem Fenstersims direkt neben der automatischen Schiebetür auf. Ein Gewimmel aus halb geschmolzenen Kerzenstummeln, verwelkten Blumen und Beileidskarten. „Hier hat er immer gesessen“, erklärte C., „seinen Namen wußte ich nicht, wußte auch sonst niemand. Du hättest schwören können, der Typ mit seiner verschlissenen Armyjacke, den zotteligen Haaren und dem Sack und Pack in Plastiktüten neben sich will bestimmt Pfandmünzen schnorren, darum ging’s aber gar nicht, der wollte einfach nicht allein sein.“
    Das Ende der Geschichte musste man nicht erzählen. An der Fensterscheibe, wo sonst Suchmeldungen nach entlaufenen Hunden hängen („Whippet ist 70cm groß und hält sich vorzugsweise an Imbissbuden auf“), klebte nun die Kopie eines offiziellen Schreibens, Absender: Bezirksamt. Ein ausgezehrter Leichnam blickte uns an, der Brustkorb nur notdürftig mit einer dünnen weißen Plane bedeckt, die Haut gelb und dünn wie Pergament, die Arme leicht zur Seite gestreckt. Fast als hätte so ein bayerischer Herrgottschnitzer seine Hand im Spiel gehabt. Doch der Herrgottschnitzer hätte seinen Schmerzensmann wohl nicht in einer lausig kalten Nacht zwischen drittem und viertem Advent auf die Bank einer U-Bahnstation in Richtung Stadtmitte gelegt, ohne Namen oder Adresse, und den Behörden die Suche nach Angehörigen überlassen.
    Na egal. Das geschah jedenfalls in jenen Tagen, aber gleich nach Neujahr wurde zusammen mit den dreckigen Schneeresten, angetauten Hundekötteln und zerfetzten Chinakrachern auch die improvisierte Gedenkstätte ‘in aedibus Aldi’ entsorgt. Die Suche geht natürlich weiter.

Use Photoshop As A Weapon
    Der erste Werktag im neuen Jahr begann mit einer Art Epiphanie. In der Passage zwischen Kaufhof am Alexanderplatz und der ausgelagerten Kurzwarenabteilung kamen drei Lichtgestalten auf mich zu. Es war ein französisches Fernsehteam, das wissen wollte: “Wie haben Sie als Deutscher Silvester verbracht!?” Ich blinzelte ratlos in die Kamerascheinwerfer. Mein einziger Anhaltspunkt: eine Schachtel Fahrradflickzeug, die ich gerade in der Kurzwarenabteilung gekauft hatte.
    Dann erinnerte ich mich wieder. An die Scherben von Millionen Sekt-, Bier- und Schnapsflaschen. Richtig! Ich war am Neujahrsmorgen mit dem Fahrrad von Kreuzberg zurück nach Prenzlauer Berg gefahren, und am Bersarinplatz waren beide Reifen platt. Um mich herum Dutzende total hilfsbereite total besoffene Fußgänger. Zwei Briten im Vollrausch hatten dann angefangen, mein Velo in Richtung Westen zu tragen, und immer gerufen: “What a great bike!”
    Das Fernsehteam wartete indes immer noch auf ein Statement, und endlich fiel mir ein: “Ich habe mit Freunden zusammen gefeiert!” Genau, Privatparty im Görlitzer Park, “invitees only”. Und da war auch jene zwölfstellige Telefonnummer, die ich auf dem Etikett einer Flasche “Landsknecht Wodka” notiert hatte. Sie stammte wohl von der tschechischen Photoshop-Expertin, mit der ich nach Mitternacht am Kamin gesessen hatte. “Use Photoshop as a weapon!”, hatte sie ständig wiederholt, “Don’t forget: You must use Photoshop as a weapon!” Was hatte das bloß zu bedeuten!? Die Leute vom Fernsehen wollten noch genauere Informationen. “Es gab Bier, Wodka und Zigarren, aber jetzt muss ich dringend mal ein Ferngespräch führen”, sagte ich und suchte die nächste Telefonzelle.

Im lauschigen Grunewald
    Gegen Nachrüstung, Atomstrom und Waldsterben war ich schon immer, ist doch klar. Aber gegen die globale Erderwärmung? Da bin ich ja mittlerweile geteilter Meinung. Denn dank der beginnenden Klimakatastrophe war es im Grunewald nun auch im Februar recht lauschig.
    Zwischen den blattlosen Zweigen leuchteten die Kuppeln der ehemaligen Abhöranlagen auf dem Teufelsberg im Schein der Wintersonne wie das Dach einer russisch-orthodoxen Kirche. Fast wie in einem Roman von Tolstoi. Zwischen Revierförsterei, Saubucht und Havelchaussee war es auch nicht ganz so einsam, wie man sich’s zwischen Petropawlowsk und Archangelsk vorstellt. Der omnipräsente Lärm der Avus dröhnte fast so laut, als wären statt Nistkästen Dolby-Surround-Boxen an den Baumstämmen festgenagelt. Kinderwagen trudelten mit plärrenden Fahrgästen über Baumwurzeln. Und grimmige Mountainbiker preschten vorbei, deren Gummireifen wie anfliegende Artilleriegeschosse sirrten.
    Doch abgesehen davon konnte man mücken- und pollenfreie Waldesluft inhalieren. Wer zudem noch
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