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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Autoren: Stefan Zweig
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meinen Schlaf, meinen Willen, meinen Besitz, mein ganzes Sein. Da saß man und harrte und starrte ins Leere wie ein Verurteilter in seiner Zelle, eingemauert, eingekettet in dieses sinnlose, kraftlose Warten und Warten, und die Mitgefangenen rechts und links fragten und rieten und schwätzten, als ob irgendeiner von uns wüßte oder wissen könnte, wie und was man über uns verfügte. Da ging das Telephon, und ein Freund fragte, was ich dächte. Da war die Zeitung, und sie verwirrte einen nur noch mehr. Da sprach das Radio, und eine Sprache widersprach der andern. Da ging man auf die Gasse, und der erste Begegnende forderte von mir, dem gleich Unwissenden, meine Meinung, ob es Krieg geben werde oder nicht. Und man fragte selbst zurück in seiner Unruhe und redete und schwätzte und diskutierte, obwohl man doch genau wußte, daß alle Kenntnis, alle Erfahrung, alle Voraussicht, die man in Jahren gesammelt und sich anerzogen, wertlos war gegenüber der Entschließung dieses Dutzends fremder Leute, daß man zum zweitenmal innerhalb von fünfundzwanzig Jahren wieder machtlos und willenlos vor dem Schicksal stand und die Gedanken ohne Sinn an die schmerzenden Schläfen pochten. Schließlich ertrug ich die Großstadt nicht mehr, weil an jeder Straßenecke die posters, die angeschlagenen Plakate einen mit grellen Worten ansprangen wie gehässige Hunde, weil ich unwillkürlich jedem der Tausenden Menschen, die vorüberfluteten, von der Stirn ablesen wollte, was er dachte. Und wir dachten doch alle dasselbe, dachten einzig an das Ja oder Nein, an das Schwarz oder Rot in dem entscheidenden Spiel, in dem mein ganzes Leben mit als Einsatz stand, meine letzten aufgesparten Jahre, meine ungeschriebenen Bücher, alles, worin ich bisher meine Aufgabe, meinen Lebenssinn gefühlt.
    Aber mit nervenzerrüttender Langsamkeit rollte die Kugel unentschlossen auf der Roulettescheibe der Diplomatie hin und her. Hin und her, her und hin, schwarz und rot und rot und schwarz, Hoffnung und Enttäuschung, gute Nachrichten und schlechte Nachrichten und immer noch nicht die entscheidende, die letzte. Vergiß! sagte ich mir. Flüchte dich, flüchte dich in dein innerstes Dickicht, in deine Arbeit, in das, wo du nur dein atmendes Ich bist, nicht Staatsbürger, nicht Objekt dieses infernalischen Spiels, wo einzig dein bißchen Verstand noch vernünftig wirken kann in einer wahnsinnig gewordenen Welt.
    An einer Aufgabe fehlte es mir nicht. Seit Jahren hatte ich die vorbereitenden Arbeiten unablässig gehäuft für eine große zweibändige Darstellung Balzacs und seines Werks, aber nie den Mut gehabt, ein so weiträumiges, auf lange Frist hin angelegtes Werk zu beginnen. Gerade der Unmut gab mir nun dazu den Mut. Ich zog mich nach Bath zurück und gerade nach Bath, weil diese Stadt, wo viele der Besten von Englands glorreicher Literatur, Fielding vor allem, geschrieben, getreulicher und eindringlicher als jede sonstige Stadt Englands ein anderes, friedlicheres Jahrhundert, das achtzehnte, dem beruhigten Blicke vorspiegelt. Aber wie schmerzlich kontrastierte diese linde, mit einer milden Schönheit gesegnete Landschaft nun mit der wachsenden Unruhe der Welt und meiner Gedanken! So wie 1914 der schönste Juli war, dessen ich mich in Österreich erinnern kann, so herausfordernd herrlich war dieser August 1939 in England. Abermals der weiche, seidigblaue Himmel wie ein Friedenszelt Gottes, abermals dies gute Leuchten der Sonne über den Wiesen und Wäldern, dazu eine unbeschreibliche Blumenpracht – der gleiche große Friede über der Erde, während ihre Menschen rüsteten zum Kriege. Unglaubwürdig wie damals schien der Wahnsinn angesichts dieses stillen, beharrlichen, üppigen Blühens, dieser atmend sich selbst genießenden Ruhe in den Tälern von Bath, die mich in ihrer Lieblichkeit an jene Badener Landschaft von 1914 geheimnisvoll erinnerten.
    Und wieder wollte ich es nicht glauben. Wieder rüstete ich wie damals zu einer sommerlichen Fahrt. Für die erste Septemberwoche 1939 war der Kongreß des P.E.N.-Klubs in Stockholm angesetzt, und die schwedischen Kameraden hatten mich, da ich amphibisches Wesen doch keine Nation mehr repräsentierte, als Ehrengast geladen; für Mittag, für Abend war in jenen kommenden Wochen jede Stunde schon im voraus von den freundlichen Gastgebern bestimmt. Längst hatte ich meinen Schiffsplatz bestellt, da jagten und überjagten sich die drohenden Meldungen von der bevorstehenden Mobilisation. Nach allen Gesetzen der
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