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Die Seele des Ozeans (German Edition)

Die Seele des Ozeans (German Edition)

Titel: Die Seele des Ozeans (German Edition)
Autoren: Britta Strauss
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hinauf. Angus spürte, wie Kjell sich versteifte. Die Faszination des Jungen löste sich in Schrecken auf. Er begann zu zittern. Nicht, weil ihm kalt war, denn diesem Wesen war niemals kalt.
    Er fürchtete sich. Perfekt.
    „Der Besitzer dieser Burg warf seinen eigenen Bruder in den tiefsten Kerker“, begann Angus zu erzählen. „Das war vor sechshundert Jahren.“
    „Warum?“ flüsterte Kjell.
    „Weil er es gewagt hatte, die falsche Frau zu lieben. Nämlich das Weib des Burgherrn. Deswegen ließ man ihn foltern. Man brandmarkte seinen Körper mit glühenden Eisen, stach ihm die Augen aus und riss ihm die Haut mit eisernen Kämmen vom Leib. Als der Tyrann sein Weib dabei erwischte, wie sie dem Sterbenden Mohnsaft brachte, um seine Qualen zu lindern, schleifte er sie auf den höchsten Burgturm und warf sie in die Tiefe. Jahrelang lag ihr zerschmetterter Körper auf den Felsen, damit alle sehen konnten, wie er verrottete. Die Raben fraßen ihr Fleisch, der Wind und der Regen zernagten ihre Knochen. Hör auf die Stille, Kjell. Sie ist voller Schreie und Schmerz. Du spürst es, nicht wahr?“
    Der hin und her hetzende Blick des Jungen kündete von nacktem Entsetzen. Angus zog ihn weiter zum hinteren Teil der Ruine, wo sich eine eingestürzte Kapelle befand. Dohlen flatterten krächzend in die Nacht hinaus, als sie die Überreste des Gebäudes betraten. Eine Welle aus Düsternis schlug über Angus zusammen.
    Der Rosenbusch, der seine Wurzeln in die Mauern geschlagen hatte und voller weißer Blüten hing, konnte die boshafte Aura des Ortes nicht mildern.
    Ja, hier konzentrierte sich der Schmerz zu einer Dichte, die einem den Atem nahm. Kjell wehrte sich, doch Angus hielt ihn fest und zerrte ihn unerbittlich in die Kapelle hinein. Noch war er stärker, deshalb musste er den Jungen brechen, ehe es zu spät war.
    „Siehst du das Loch hier?“ Angus deutete auf den gähnenden Schlund, der tief in die Erde hinabführte. „Man nennt so etwas Oubliette. Es bedeutet vergessen . Hier endete das Leben des unglücklich Verliebten. Sein eigener Bruder stieß ihn dort hinab. Auf dem Grund des Loches befinden sich lange, scharfe Nägel, die jeden aufspießen, der dort hinabgestoßen wird. Kannst du sie spüren? Die unsäglichen Qualen all jener, deren Gerippe noch immer dort unten liegen? Das ist es, was Menschen sich gegenseitig antun. Sie quälen und töten einander, sie hassen und lügen und vernichten. Du gehörst nicht zu ihnen, deswegen würden sie dir noch schlimmere Dinge antun.“
    Kjells Gesicht war nicht länger schön, sondern verzerrt vor Entsetzen und Angst. „Schlimmer als das?“, flüsterte er.
    „Schlimmer als das“, bestätigte Angus. „Nur in meinem Haus bist du sicher. Nur bei mir. Geh hinaus, und du wirst einen grausamen Tod finden.“
    „Aber ich fühle noch anderes. Schöne Gefühle. Gute Gefühle.“
    „Nichts als Verzweiflung“, fauchte Angus. Er verließ die Kapelle, zog Kjell hinter sich her und genoss den bitteren Geschmack seines gelungenen Plans. Der Junge fürchtete sich zu Tode. „Menschen klammern sich aus reiner Verzweiflung an schöne Gefühle. Aber sie werden ihnen schnell wieder entrissen, und dann wird alles umso schlimmer. Lausche in die Welt hinaus, mein Sohn. Du kannst ihren Schmerz spüren, ich weiß es.“
    „Ich will zum Meer“, hörte er Kjell leise sagen.
    „Was?“
    „Ich will zum Meer.“
    Ehe Angus wusste, wie ihm geschah, hatte er ausgeholt und dem Jungen eine schallende Ohrfeige verpasst. Der Zorn zog brennende Klauen durch sein Gehirn, ließ sein Blut kochen und seine zu Fäusten geballten Hände zittern.
    „Das Meer hat deine Mutter getötet!“, schrie er ihn an. „Ich lasse nicht zu, dass es dich auch noch bekommt. Niemals, du undankbarer Bengel. Hast du gehört?“
    Jetzt wurde Kjells Blick hart und eiskalt. „Würde es dir nicht besser gehen, wenn ich nicht mehr da bin? Du gibst mir an allem die Schuld. Jedes Mal, wenn du zuschlägst. Jedes Mal, wenn du mir kein Essen bringst. Jedes Mal, wenn du so betrunken bist, dass du nicht mehr weißt, wer du bist.“
    „Sei still!“ In Angus Kopf pulsierte es. Die Kontrolle drohte ihm zu entgleiten, aber wahrscheinlich hatte er sie nie besessen. Nicht mehr seit Fionas Tod. Ja, er war ein jämmerliches Nichts. Ein erbärmlicher Mistkerl, der nichts mehr auf die Reihe bekam. „Sei endlich still. Sei still. Sei still!“
    „Wozu hast du mir eure Sprache beigebracht? Wozu hast du mich all diese Dinge gelehrt? Wozu
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