Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
Rückständigkeit der östlichen Supermacht zu bemänteln, indem er die Welt mit dem »Großen Iwan« beeindruckte. Das war der Codename für die größte Kernwaffenexplosion aller Zeiten im Oktober 1961. Sie hatte eine Sprengkraft, die etwa 3600-mal größer war als die der Hiroshima-Bombe.
Vor dem Iwan-Der-Große-Glockenturm erhebt sich die Zarenglocke, neben der Menschen klein wie Zwerge scheinen. Das 20 Tonnen schwere und 6 Meter hohe Meisterwerk hat nur einen Fehler: Es hat nie einen Glockenton hervorgebracht. Zarin Anna (1730 bis 1740) ließ die Glocke gießen. Während einer Feuersbrunst im Kreml 1735 aber zersprang das unfertige Werk, ein elf Tonnen schweres Stück stürzte in die gewaltige Baugrube. Fast hundert Jahre dauerte es, bis man sie herausholte.
Russland hat daraus, selbst nach der Revolution 1917, keineswegs die Lehre gezogen, der Gigantomanie abzuschwören. Im Gegenteil: Die Kommunisten sprengten 1931 die Erlöserkathedrale, um einen Palast der Sowjets zu errichten. Mit 415 Metern und einer gigantischen Lenin-Statue war der Palast als das höchste Gebäude der Welt projektiert. Weil die Fundamente im sumpfigen Boden versanken, musste Stalin das Vorhaben aufgeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg bauten die Genossen Stahlwerke für 100000 Arbeiter und feilten an Plänen, die sibirischen Flüsse in die entgegengesetzte Richtung fließen zu lassen.
An XXL -Ideen mangelt es auch im neuen Russland nicht: Kaum ein Monat vergeht, in dem die Hauptstadtpresse nicht ein neues Superprojekt bejubelt: Zwischen Kamtschatka, dem nordöstlichen Zipfel des größten Flächenstaats der Erde, und Alaska könnte ein fast hundert Kilometer langer Tunnel unter der Beringstraße gegraben werden, der Russland und Amerika miteinander verbindet. In Moskau soll bald ein 220 Meter hohes Riesenrad gebaut werden, natürlich das größte der Welt. Und in der Woche vor Neujahr meldete die kremlnahe Tageszeitung »Iswestija«: »Russland erhält eine Laser-Zarenkanone.« Für insgesamt eine Milliarde Euro soll bis 2020 der stärkste und schnellste Laser der Welt entstehen. Viele dieser Megaprojekte bleiben Makulatur. In ihnen spiegelt sich eher Sehnsucht nach Größe als wirkliche Größe.
Darin erinnern sie an die Kutschen der Zaren, von denen eine so überdimensioniert und schwer war, dass sie kaum für Ausfahrten benutzt wurde. Bei Paraden gehörten bis zu hundert Kutschpferde zum Tross des Herrschers. Von den Hälsen der Pferde hingen perlenbesetzte Zierquasten. Einen Reiter trugen die Rosse nicht, denn Edelsteine und Perlen verzierten auch die Sattelsitze. Untereinander waren die Pferde mit Ketten aus Silber verbunden. Als ein polnischer Gesandter 1675 die Gespanne des Zaren erblickte, notierte er, dass derart kostbares Pferdegeschirr »bei keinem benachbarten Herrscher zu finden ist«.
Wenn der russische Präsident heutzutage seinen Arbeitstag im Kreml antritt, begleitet ihn eine Wagenkolonne aus einem Dutzend schwarzer Limousinen und gepanzerter Jeeps. Der Verkehr wird dann für Normalsterbliche gesperrt. Mit einer Geschwindigkeit weit über dem üblichen Tempolimit rast die Kolonne von der Vorstadtresidenz des Präsidenten über die nach einem Zarengeneral benannte zehnspurige Ausfallstraße, den Kutusowski Prospekt, zum Kreml. Moskaus staugeplagte Autofahrer quittieren das Spektakel regelmäßig mit einem wütenden Hupkonzert. Sie hassen die Zweiklassengesellschaft, die in den täglichen Vollsperrungen lediglich ihre Kulmination findet. Großen Unmut rufen auch die sogenannten Migalki hervor, die Blaulichter, die es Ministern, Militärs, Geheimdienstchefs und auch manch kleinerem Kremllicht erlauben, sich mit ihren Fahrern über jegliche Verkehrsregeln hinwegzusetzen. Knapp tausend solcher Fahrzeuge sind derzeit in Moskau registriert. Wenn sie bei Rot über Ampeln fahren und bei Staus auf die Gegenfahrbahn ausweichen, kommt es immer wieder zu schweren Unfällen. Gelegentliche Bemühungen, die Zahl der Blaulichter zu begrenzen, scheitern regelmäßig.
Ein feines Netz aus Privilegien hebt Spitzenpolitiker und ihre Diener über das Leben der Bürger. Es ist in Russland schwer vorstellbar, dass Wladimir Putin selbst einkaufen geht, wie Angela Merkel das gelegentlich tut. Betritt Russlands starker Mann einen Supermarkt, dann darf er Fernsehkameras samt pflegeleichter Reporter erwarten, bereit, eine volksnahe Botschaft ins Land zu senden. Die hohe Kremlmauer ist sinnbildlicher Ausdruck dieser Trennung von Volk und Herrscher.
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