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Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
Autoren: Frank Tenner
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achtzehn Jahre gibt es an dieser Stelle nicht viel zu berichten. Die Jahre verflogen wie im Fluge. Dieser Flug schien an Geschwindigkeit mit jedem verflossenen Jahr zuzunehmen, im Verhältnis zu meiner Schulzeit kamen mir diese Jahre nur noch wie Wochen vor. Schopenhauer hat einmal behauptet, im Laufe des Lebens verändere sich das subjektive Zeitempfinden. In der Kindheit würden wir reizüberflutet, alles wäre neu und aufregend und man täusche sich über den waren Charakter der Welt. Die Zeit habe in unserer Jugend einen viel langsameren Schritt, das erste Viertel unseres Lebens sei das längste und ließe viel mehr Erinnerungen zurück als die folgenden. Nun, die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts brachten für mich weitaus mehr Neues und Aufregendes als die Jahre der Kindheit. Mit der „Wende“, jenem Synonym für den Zusammenbruch des kommunistischen Systems in der DDR, begann eine mehr als aufregende Zeit und die Reizüberflutung wurde grenzenlos. Der Rhythmus des Alltags veränderte sich, vielleicht lag darin die Ursache für die wachsende Geschwindigkeit. Wie auch immer, über die Ereignisse, die von Interesse für meine Entwicklung waren, werde ich an anderer Stelle noch berichten.
    Die Sanduhr fand ihren Stammplatz auf meinem großen Schreibtisch, zunächst nur eingerahmt von Briefbeschwerer und -öffner sowie einem bauchigen Tintenfass, einer Löschwiege und einem Messingbecher mit Schreibfedern und auch einigen modernen Schreibutensilien, später in direkter Nachbarschaft mit einem Computermonitor. In den ersten Wochen drehte ich die Sanduhr des Öfteren um und schaute fasziniert zu, wie der Sand nach oben „rieselte“ oder welches Wort man auch für diesen Vorgang verwenden möchte. Auch die Tatsache, dass sich die runden Metallplatten nach innen verschieben ließen und man die Minutenanzahl genau einstellen konnte, beeindruckte mich sehr, weil ich mir das physikalische oder mechanische Funktionsprinzip nicht erklären konnte. Die Platten waren so präzise ins Glas eingearbeitet, dass kein einziges Sandkorn oder Eierschalenstückchen verloren ging, gleichzeitig hatten die Platten soviel Spielraum, dass man sie ohne Schwierigkeiten bewegen konnte. Ein kleiner Holzknauf erlaubte das nach unten drücken oder nach oben ziehen. Und obwohl es keine Scharniere, Stifte oder Einbuchtungen gab, blieb die Platte exakt an dem Eichstrich stehen, den man sich als Zeitspanne ausgesucht hatte. Man konnte den Sand nur eine Minute nach oben rieseln lassen oder als größtmöglichen Zeitraum – dreißig Minuten. Die Menge der Sandkörner blieb zwar dieselbe, aber die Röhre wurde verengt oder erweitert, sodass die Gesamtmenge in unterschiedlicher Minutenzeit vom unteren an den oberen Konus abgegeben wurde. Dass es sich unter bestimmten Umständen um Jahre handelte, ahnte ich natürlich nicht. In Japan soll es eine Sanduhr geben, die eine Tonne wiegt und genau ein Jahr braucht, um ihren Sand vom oberen in den unteren Konus zu befördern. Ich hatte mir vorgenommen, bei Gelegenheit dieses seltene Stück in Augenschein zu nehmen, zur Verwirklichung dieses Vorsatzes ist es nie gekommen und wird es wohl auch nicht mehr kommen. Und was ist schon ein Jahr verarbeitet in einer Tonne Material, gegen eine Sanduhr, die nur ein Kilo wiegt und gleich dreißig Jahre messen kann. Nein, messen ist nicht der richtige Ausdruck, treffender wäre es zu sagen - die dreißig Jahre rückwärts fließen lässt.
    Wie bei einem Spielzeug, mit denen sich Kinder nach dem Tag des Geschenkes intensiv beschäftigen, dann noch gelegentlich damit spielen, bevor es schließlich in einer Ecke landet und kaum noch beachtet wird, erging es meiner Sanduhr. Mein Interesse ließ nach einigen Wochen merklich nach, allerdings hatte ich mich an ihren Anblick gewöhnt und wollte sie trotz zunehmenden Platzmangels auf meinem Schreibtisch nicht mehr missen. Sie hatte keinen praktischen Nutzen, aber doch einen ästhetischen Wert und stellte ein lieb gewordenes Erinnerungsstück an die erste Reise in die westliche Hemisphäre dar. Am 24. Dezember 2008 sollte sie eine neue und mein Leben völlig verändernde Rolle bekommen.
    Der Heilige Abend begann wie jedes Jahr. Da wir wussten, was uns an riesiger Kalorienzahl in Form von Braten und Speck- und Kartoffelsalat am Abend erwarten würde, nahmen meine Frau und ich nach dem Aufstehen und der Morgentoilette nur ein paar selbst gebackene Plätzchen und eine Tasse Kaffee zu uns. Kaum hatten wir das Frühstück beendet,
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