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Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Titel: Die Deutsche - Angela Merkel und wir
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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begründen, inwiefern das Festhalten an der Wehrpflicht oder die zivile Nutzung der Atomenergie Kernbestände konservativen Denkens sind.
    Merkels persönlicher Anteil an diesem Wandel ist umstritten. Oft wird versucht, sogenannte wahre Absichten zu ergründen, und es wird bestritten, dass sie überhaupt etwas wolle. Aber so einfach liegen die Dinge nicht, in der Politik nicht und nicht sonst im Leben. Natürlich hat Merkel die Erneuerung auch selbst betrieben. Es wäre aberwitzig, etwas anderes zu behaupten, und der tiefe Hass, der ihr phasenweise aus einigen Teilen der Partei entgegenschlug, ist dafür ein eindrucksvoller Beleg. Aber mindestens im selben Maße ist der Umstand, dass eine Politikerin wie Merkel überhaupt an die Spitze der konservativen Partei und schließlich des ganzen Landes aufrücken konnte, bereits eine Folge der gesellschaftlichen Veränderung. Und manche Dinge hat sie schlichtweg durch ihr bloßes Dasein aufgebrochen. »Margaret Thatcher war keine Frauenpolitikerin«, erklärte Merkel nach dem Tod der britischen Politikerin im Frühjahr 2013. »Aber indem sie sich zu Zeiten, als dies noch nicht selbstverständlich war, als Frau im höchsten demokratischen Amt behauptete, hat sie vielen nach ihr ein Beispiel gegeben.« Den Satz hätte die Kanzlerin, bei allen sonstigen Unterschieden, auch über sich selbst sagen können.
    Möglicherweise sind die Deutschen, insbesondere dieLinksliberalen des alten Westens, manchmal ein bisschen zu selbstgewiss. Bei aller Selbstkritik, derer sie sich rühmen, halten sie sich für das modernste, aufgeschlossenste, toleranteste, friedlichste Volk auf der Welt, das zudem die Umwelt respektiert, ein aufgeklärt-entspanntes Verhältnis zur eigenen Nation pflegt und die Fixierung aufs Materielle hinter sich gelassen hat. In dieser Aufzählung mögen einige Lebenslügen enthalten sein: Der Durchschnittsdeutsche verursacht mehr Treibhausgase als der in Umweltfragen angeblich ignorante Italiener, im Vergleich zu Amerika lässt die Aufgeschlossenheit Einwanderern gegenüber noch sehr zu wünschen übrig, jeder missratene Nazi-Vergleich belegt aufs Neue, dass das Verhältnis zur Nation ganz so entspannt nun auch wieder nicht ist. Und erst ein dramatischer Wirtschaftsabsturz könnte zeigen, wie wichtig das Sozialprodukt hierzulande wirklich ist. Aber die Einwände sind doch allesamt sehr relativ, im Vergleich zum Gesamtbild anderer Länder und mehr noch zu den meisten Epochen der deutschen Geschichte. Nicht zuletzt dafür, dass sie diese Kanzlerin haben, werden die Deutschen – bei aller Kritik an ihnen und an Angela Merkel – in aller Welt bestaunt.
    Dabei bleibt die Beziehung zwischen diesem Volk und seiner Regierungschefin auch im achten Jahr paradox. Vieles spricht dafür, dass die einzige im Ostblock sozialisierte Politikerin an der Spitze eines mehrheitlich westeuropäischen Landes die Bewohner im alten Westen des Kontinents für allzu behäbig und selbstgewiss hält, dass sie insbesondere ihren Deutschen auf vielen Feldern zutiefst misstraut, vom Verhältnis zur nationalsozialistischen Vergangenheitbis zur ökonomischen Leistungsbereitschaft, vom Pazifismus bis zur Atom-Angst. Mit den Jahren hat sich Merkel darauf eingestellt, und oft mutet sie das, was sie wohl für die Tatsachen hält, ihren Wählern nur in verträglichen Dosen zu. In einer dialektischen Volte hat es gerade diese fremde Kanzlerin geschafft, zur beliebtesten Regierungschefin seit Gründung der Bundesrepublik aufzusteigen, vor allem was die Zustimmungsraten jenseits der Parteianhängerschaft betrifft.
    Mit ihrem protestantischen Leistungs- und Verzichtsethos spricht sie eine tief sitzende Prägung der Deutschen an, die solche Prinzipien durchaus schätzen, auch wenn sie selbst sie nicht immer praktizieren. Spätestens seit der Euro-Krise gilt Merkel vielen als die einzig Vernünftige in einem Umfeld der Profilierungssüchtigen im In- und Ausland, in dieser Frage scheinen sich Selbst- und Fremdbild anzugleichen. Die Episoden der Harmonie, die es zuletzt im Verhältnis zwischen den Deutschen und ihrer Kanzlerin gab (oder, je nach Perspektive, zwischen der Kanzlerin und ihrem Volk): Sie haben einen Grund wohl auch darin, dass nicht wenige Deutsche das Misstrauen Merkels gegenüber ihren Landsleuten durchaus teilen. Bleibt Merkel an der Macht, werden beide Seiten in diesem Punkt noch einiges Vergnügen miteinander haben.
    So gesehen ist die Frage falsch gestellt, ob Merkel mit ihrem Hang zu einer
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