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Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Titel: Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Autoren: Veronica Roth
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Schutzbefohlenen sind jetzt sechzehn Jahre alt. Sie stehen an der Schwelle zum Erwachsensein, und nun liegt es an ihnen zu entscheiden, wie sie weiterleben wollen.« Marcus spricht feierlich und betont jedes einzelne Wort. » Vor vielen Jahrzehnten haben unsere Vorfahren erkannt, dass nicht politische Lehren, religiöse Überzeugungen, Rasse oder Nationalitäten für die Kriege in der Welt verantwortlich sind. Sie erkannten, dass den Menschen vielmehr etwas Grundsätzliches fehlt– der Widerstand gegen das Böse, in welcher Gestalt auch immer es auftreten mag. Deshalb teilten sie sich in Fraktionen auf, die danach strebten, jenen Makel, den sie für die Wirren der Welt verantwortlich machten, auszulöschen.«
    Meine Augen wandern zu den fünf Metallschalen. Woran glaube ich? Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.
    » Diejenigen, die der Aggression die Schuld gaben, gründeten Amite, die Fraktion der Freundschaft und Friedfertigkeit.«
    Die Amite lächeln einander zu. Sie kleiden sich leger in Rot oder Gelb. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, wirken sie freundlich, liebevoll und frei. Aber es ist mir nie in den Sinn gekommen, mich ihnen anzuschließen.
    » Jene, die die Unwissenheit dafür verantwortlich machten, gründeten Ken, die Fraktion der Gelehrten.«
    Ken auszuschließen, ist das Einzige, was mir leichtfällt.
    » Diejenigen, die der Doppelzüngigkeit die Schuld gaben, schufen Candor, die Fraktion der Freimütigen.«
    Candor habe ich noch nie gemocht.
    » Diejenigen, die den Egoismus dafür verantwortlich machten, schufen Altruan, die Fraktion der Selbstlosen.«
    Auch ich mache den Egoismus dafür verantwortlich, ja das tue ich wirklich.
    » Und jene, die der Feigheit die Schuld gaben, wurden Ferox, die Furchtlosen.«
    Aber ich bin nicht selbstlos genug. Sechzehn Jahre lang habe ich es versucht, aber es reicht nicht.
    Meine Beine werden weich, alles Leben entweicht aus ihnen, ich frage mich, wie ich einen Fuß vor den anderen setzen soll, wenn ich aufgerufen werde.
    » Diese fünf Fraktionen arbeiten nun schon seit vielen Jahren zusammen, sie leben in Frieden miteinander, und alle tragen etwas zu unserer Gesellschaft bei. Altruan stellt die uneigennützigen Führer unserer Regierung, Candor die vertrauenswürdigen und vernünftigen Kenner des Rechts. Dank der Ken haben wir kluge Lehrer und Forscher, Amite hat uns verständnisvolle Berater und Verwalter geschenkt. Ferox schließlich sorgt dafür, dass wir vor Gefahren von außen und innen sicher sind. Doch der Einfluss der Fraktionen ist nicht allein darauf beschränkt. Sie geben einander viel mehr, als sich in so wenigen Worten sagen lässt. Die Fraktion gibt unserem Leben einen Sinn und eine Richtung.«
    Ich muss an das Motto denken, das ich in meinem Lehrbuch über die Geschichte der Fraktionen gelesen habe: Fraktion vor Blut. Zuerst die Fraktion, dann die Familie. Kann das wirklich gut und richtig sein?
    » Ohne unsere Fraktion könnten wir nicht überleben«, fügt Marcus noch hinzu.
    Das Schweigen, das auf seine Rede folgt, lastet schwerer als jede andere Form der Stille. Es bringt unsere größte Angst zum Ausdruck. Größer noch als die Furcht vor dem Tod ist die Angst, fraktionslos zu sein.
    » Deshalb ist der heutige Tag ein Freudentag«, fährt Marcus fort. » Es ist der Tag, an dem wir unsere neuen Initianten begrüßen, die mit uns gemeinsam eine bessere Gesellschaft und eine bessere Welt errichten werden.«
    Reihum ist gedämpfter Beifall zu hören. Ich gebe mir Mühe, ganz ruhig zu stehen, denn wenn ich die Knie aneinanderdrücke und mich ganz starr und steif mache, zittere ich nicht. Marcus liest die ersten Namen vor, aber ich kann keine Silbe von der anderen unterscheiden. Wie soll ich da wissen, wann er mich aufruft?
    Einer nach dem anderen treten die Sechzehnjährigen aus der Warteschlange heraus und gehen in die Mitte des Raums. Das erste Mädchen, das sich entscheiden muss, wählt Amite, die Fraktion, aus der sie stammt. Ich sehe, wie ihre Blutstropfen auf die Erde in der Schale fallen, dann stellt sie sich hinter die Stühle ihrer Fraktion.
    Im Raum herrscht nun ständige Bewegung: ein neuer Name, eine neue Person, die wählt, ein neues Messer. Ich kenne die meisten, aber ich bezweifle, dass sie mich kennen.
    » James Tucker«, ruft Marcus auf.
    James Tucker von den Ferox ist der Erste, der auf dem Weg zu den Schalen stolpert. Er streckt die Arme vor, aber er fängt sich wieder und stürzt nicht. Er wird rot und beeilt
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