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Der Schattengaenger

Der Schattengaenger

Titel: Der Schattengaenger
Autoren: Monika Feth
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dieser Träume, in denen die Füße am Boden kleben und einen daran hindern, sich vor seinen Verfolgern in Sicherheit zu bringen.
    »HEB ES AUF!«
    Mit unendlicher Mühe drehte Imke sich um. Setzte den einen Fuß vor den andern. Betrat die Halle. Fasste nach der Klinke und stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür, die laut ins Schloss fiel. Dann sackte sie zu Boden. Sie schaffte es gerade noch, das Gespräch wegzudrücken, bevor sie in Tränen ausbrach.
     
    Tilo Baumgart machte sich in seinem Hotelzimmer für den nächsten Vortrag bereit. Für seinen Geschmack war er allmählich viel zu oft auf Reisen. Am vergangenen Wochenende erst hatte er in Zürich über die Macht des Unterbewusstseins gesprochen. Heute erwartete ein Publikum in Echternach seine Ausführungen zum Thema Dissoziative Identitätsstörung - Das Zersplittern einer Persönlichkeit.
    Mina, mit ihren achtzehn Jahren die jüngste seiner Patientinnen, hatte ihn gebeten, ihren Fall öffentlich zu machen. »Lassen Sie andere daraus lernen«, hatte sie gesagt. »Dann sind meine Qualen wenigstens für etwas gut. Vielleicht wird mich das irgendwann sogar mit meinem Schicksal versöhnen.«
    Sie bezeichnete sich selbst als multiple Persönlichkeit. Den Fachbegriff Dissoziative Identitätsstörung empfand sie als zu distanziert. Sie konnte sich darin nicht erkennen. Störung klang nach Krankheit. Mina jedoch war auf dem besten Weg, sich mit den zahlreichen Persönlichkeiten, die sie ausmachten, zu arrangieren.
    Lange hatte sie sich geweigert, die Therapie bei Tilo zu unterbrechen, doch schließlich hatte er sie überzeugen können, dass es sinnvoll war, eine Klinik aufzusuchen. Die Therapeuten dort hatten viel mehr Möglichkeiten als er und konnten sich Mina intensiver widmen. Sie arbeiteten eng mit Tilo zusammen, das war Minas einzige Bedingung gewesen.
    Ein weiter Weg lag noch vor ihr. Tilo freute sich darüber, dass Jette und Merle ihn mitgehen wollten. Die beiden hatten schon seit einiger Zeit vor, ihre Wohngemeinschaft zu erweitern. Bei ihnen wäre Mina gut aufgehoben. Die Freundinnen hatten bewiesen, dass ihre Verbindung auch schwersten Belastungen standhielt.
    Krawatte oder nicht? Tilo hatte vorsorglich zwei eingepackt. Doch nun entschloss er sich, sie in der Reisetasche zu lassen. Während er sich noch einmal mit dem Kamm durchs Haar fuhr, fragte er sich, was Imke wohl gerade tun mochte.
    »Nimm auf mich keine Rücksicht«, hatte sie ihm beim Abschied gesagt. »Die Vorträge gehören zu deinem Leben, und sie sind so gut, dass es eine Schande wäre, wenn du damit aufhören würdest.«
    Als Schriftstellerin war sie selbst oft unterwegs, doch das machte es Tilo nicht leichter, Termine anzunehmen, im Gegenteil. Er hätte nicht geglaubt, dass er jemals eine Frau so sehr vermissen würde. Das war gleichzeitig erschreckend und wunderbar.
    Er warf einen letzten prüfenden Blick auf sein Spiegelbild, schnitt ihm eine Grimasse und beschloss, Imke noch einmal kurz anzurufen.
    Guten Tag. Leider kann ich im Augenblick nicht mit Ihnen sprechen. Hinterlassen Sie mir doch eine Nachricht. Ich rufe Sie so bald wie möglich zurück.
    Tilo räusperte sich. Er war daran gewöhnt, über Anrufbeantworter zu kommunizieren, doch er tat es nicht gern.
    »Du fehlst mir«, sagte er und fand, dass seine Stimme sich fremd anhörte. »Sehr«, fügte er hinzu. »Pass auf dich auf.«
    Er blieb auf dem Bett sitzen, das Handy in der Hand, und versuchte, sich zu erinnern, ob Imke heute Abend etwas vorgehabt hatte. Im nächsten Moment hatte er die Wiederholungstaste gedrückt.
    »Ich liebe dich«, sagte er. Dann stand er auf, nahm seine Unterlagen vom Schreibtisch, löschte das Licht und verließ das Zimmer. Erst als er auf das Rednerpult zuging, fiel ihm ein, dass er es versäumt hatte, es auf Imkes Handy zu probieren.
    Das Publikum begrüßte ihn mit Applaus. Er lächelte und begann mit seinem Vortrag.
     

Kapitel 4
    »Es war gut, dass Sie mich angerufen haben.«
    Bert Melzig streifte sich hauchdünne Einweghandschuhe über, von denen er immer ein, zwei Paar bei sich trug, und hob das Päckchen auf. Nach einem letzten prüfenden Blick in die Dämmerung, die sich schon sehr verdichtete, folgte er Imke Thalheim in den Wintergarten, wo sie ihm die Schere reichte, um die er gebeten hatte. Vorsichtig schnitt er den Umschlag auf und zog den Inhalt heraus.
    Eine aufklappbare Klarsichthülle mit Papieren. Bert ließ sie herausgleiten und breitete sie auf dem Tisch aus. Kopien von
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