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Der reiche Mann

Der reiche Mann

Titel: Der reiche Mann
Autoren: Georges Simenon
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schüchtern berührte er die Hand, die von dem Bett herunterhing; sie war kalt und leblos. Er konnte diese Augen nicht ansehen, die nichts mehr sahen und deren Starrheit ihn erschreckte.
    Er beugte sich über sie, und es fiel ihm schwer, die Lider zuzudrücken.
    »Rühre nichts an, Victor. Die Polizei wird…«
    Er verstand nicht. Er verstand nichts mehr. Er war völlig fertig. In der Mansarde war nicht die geringste Unordnung.
    »Das kann nicht sein.«
    Seine Stimme erstickte fast. Er weinte nicht. Er war so bestürzt, daß er überhaupt nicht mehr denken konnte.
    »Hast du Doudou gesehen?«
    »Nein.«
    Er wollte ihr sagen, sie täusche sich. Doudou war einer solchen Tat nicht fähig. Am Hals des jungen Mädchens sah man dunklere Recke. Jemand hatte sie erdrosselt. Mußte man da nicht unwillkürlich an die riesigen Hände des Taubstummen denken?
    »Ich werde die Gendarmerie anrufen.«
    Sie ging hinunter. Die Gendarmerie war nur zweihundert Meter entfernt.
    Er wußte nicht, was er tun, wohin er gehen sollte.
    Er lehnte noch am Türrahmen, als er auf der Treppe Schritte hörte. Jeanne ging dem Wachtmeister Cornu, den er gut kannte, voraus.
    Auch der Wachtmeister war entsetzt.
    »Wann haben Sie sie gefunden?«
    »Vor wenigen Minuten, als wir nach Hause kamen.«
    Es war Jeanne, die das sagte, denn er hätte kein Wort herausgebracht.
    »Wir kamen von der Beerdigung meiner Schwester in Cholet. Zu unserem Erstaunen war Alice nicht in der Küche. Mein Mann ist deshalb hinaufgegangen, und da ich eine dunkle Vorahnung hatte, bin ich ihm gefolgt.
    Ich habe Dr. Bourseau angerufen. Er wird bald hier sein.«
    »Und ich muß La Rochelle benachrichtigen. Der Hauptmann wird selber kommen wollen.«
    Lecoin hatte nicht den Mut, wieder allein bei der Leiche zu bleiben. Er ging hinter ihnen hinunter. Alles erschien ihm unwirklich. Ihm war weich in den Knien, und er hätte sich am liebsten auf den Boden gelegt.
    Es konnte doch gar nicht sein! Er dachte an die letzte Nacht, die einzige, die sie zusammen verbracht hatten. Sie war an seiner Brust eingeschlafen, und er hatte schließlich im gleichen Rhythmus geatmet wie sie.
    Er liebte sie. Er hätte es am liebsten herausgeschrien.
    Aber Jeanne wußte es schon, und sie blickte ihn halb überrascht, halb mitleidig an.
    Sie wußte, daß er sich ihre Abwesenheit zunutze gemacht hatte, um mit Alice zu schlafen, aber an eine so wilde Leidenschaft hätte sie nie geglaubt.
    Sie holte ein Glas Cognac und reichte es ihm. Er trank es mechanisch, vergaß, sich dafür zu bedanken.
    »Hier ist Wachtmeister Cornu in Marsilly. Ich muß den Hauptmann sprechen.«
    »Ist das so wichtig?«
    »Ja.«
    Jemand öffnete die Tür. Es war Dr. Bourseau, den man von Mimile hatte holen lassen, wo er Karten spielte.
    »Was gibt’s, Kinder?«
    »Alice ist tot.«
    Diesmal hatte Victor das mit heiserer Stimme gesagt. Er ging mit dem Arzt die Treppe hinauf und blieb vor der Tür im zweiten Stock stehen, die offenstand.
    Er erwartete fast, daß Alice friedlich schlief. Er konnte es nicht glauben, daß jemand…
    »Waren ihre Augen geschlossen?« wunderte sich der Arzt.
    »Nein. Ich habe sie ihr zugedrückt.«
    Bourseau ergriff ihre Hand, als ob er ihr den Puls fühlen wolle. Zugleich beugte er sich über die blauen Flecke am Hals.
    »Vor mehr als einer Stunde, vielleicht vor anderthalb Stunden ist sie erwürgt worden«, murmelte er. »Haben Sie die Gendarmerie benachrichtigt?«
    »Ja. Der Wachtmeister ist unten. Er telefoniert gerade mit dem Hauptmann in La Rochelle.«
    »Wo waren Sie heute nachmittag?«
    »In Chalet. Meine Frau war seit Sonntag dort, denn ihre Schwester, die an Krebs litt, lag im Sterben. Die Beerdigung hat heute stattgefunden. Ich bin in aller Frühe hingefahren, und wir sind erst gerade eben zurückgekommen.«
    Er merkte gar nicht, daß er es war, der das sagte. Er dachte plötzlich an Doudous Hütte, er ging die Treppe hinunter, stürzte hinaus und eilte mit großen Schritten auf die Hütte zu. Es war niemand darin.
    Der Arzt war ebenfalls hinuntergegangen und wartete auf den Hauptmann.
    »Haben Sie den Taubstummen nicht im Café gesehen?« fragte Victor ihn.
    »Ja, er war vor einer guten halben Stunde dort. Vielleicht noch etwas früher. Er suchte jemanden.«
    »Wen?«
    »Das hat er natürlich nicht sagen können. Aber er sah alle nacheinander an und hat dann sogar einen Blick in die Küche geworfen.«
    Als erster erschien der Hauptmann in Begleitung eines Gendarmen.
    »Wer ist ermordet worden?«
    »Das
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