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Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)

Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)

Titel: Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)
Autoren: Don DeLillo
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Mutter sagte es mir früher, und ich brauche keinen, der es mir heute sagt, ich weiß es, ich höre es, und das bedeutet viel mehr, jemand sollte mal erforschen, was Menschen im Schlaf so reden, und wahrscheinlich hat das auch schon einer gemacht, irgendein Paralinguist, denn es bedeutet mehr als tausend persönliche Briefe, die ein Mensch in seiner Lebenszeit schreibt, und Literatur ist es außerdem.«
    Es waren nicht alles verschreibungspflichtige Medikamente, aber die meisten schon, und alles war Elster. Die Lotionen, Tabletten, Kapseln, Zäpfchen, die Salben und Gels und die Flaschen und Röhrchen, die sie beinhalteten, die Etiketten, Beipackzettel und Preisschildchen – all das war Elster, verletzlich, und vielleicht sollte ich meine Anwesenheit in dem Badezimmer als moralisch verwerflich betrachten, aber ich fühlte mich nicht schuldig, nur entschlossen, den Mann kennenzulernen mit all seinem Daseinszubehör, den Stimmungsaufhellern, den Suchterzeugern, die niemand sieht oder sich vorzustellen versucht. Nicht dass diese Dinge ernsthafte Aspekte des wahren Lebens gewesen wären, das er gern ansprach, wie die verlorenen Gedanken, die Erinnerungen, die Jahrzehnte überspannen, die tote Haut am Daumen. Doch in gewisser Weise befand er sich hier in seinem Arzneimittelschränkchen, der Mann selbst, klar und deutlich in Tropfen, Esslöffeln und Milligramm ausgedrückt.
    »Schaut euch das alles an«, sagte er und schaute es sich nicht an, Landschaft und Himmel, auf die er mit einer ausholenden Armbewegung zeigte.
    Wir schauten es uns auch nicht an.
    »Irgendwann wird der Tag zur Nacht, aber es hat mit Licht und Dunkel zu tun, nicht mit dem Vergehen der Zeit, der sterblichen Zeit. Nichts von dem üblichen Terror. Hier ist es anders, die Zeit ist immens, das spüre ich hier, greifbar. Die Zeit, die uns vorausgeht und überlebt.«
    Ich gewöhnte mich langsam daran, wie großformatig er redete, nach langen Jahrzehnten des Nachdenkens und Sprechens über transzendentale Themen. In diesem Fall sprach er zu Jessie, die ganze Zeit hatte er zu ihr gesprochen, vorgebeugt auf seinem Stuhl.
    Sie sagte: »Der übliche Terror. Was ist der übliche Terror?«
    »Kommt hier nicht vor, dieses Kalkulieren von Minute zu Minute, dieses Gefühl, das ich in der Stadt habe.«
    Alles ist eingebettet, Stunden und Minuten, Wörter und Zahlen überall, sagte er, Bahnstationen, Busrouten, Taxameter, Überwachungskameras. Alles dreht sich um Zeit, Dämlackzeit, minderwertige Zeit, Leute, die auf Armbanduhren schauen und andere Geräte, andere Gedächtnisstützen. Das ist Zeit, die aus unserem Leben hinaussickert. Städte wurden gebaut, um Zeit zu messen, um Zeit aus der Natur zu entfernen. Es gibt ein endloses Hinunterzählen, sagte er. Wenn man alle Oberflächen wegnimmt, wenn man hineinschaut, bleibt nur Terror übrig. Das ist es, was die Literatur heilen sollte, das epische Gedicht, die Gutenachtgeschichte.
    »Der Film«, sagte ich.
    Er sah mich an.
    »Mann vor der Wand.«
    »Ja«, sagte ich.
    »Up against the wall . «
    »Nein, nicht als Feind, sondern als eine Art Vision, als Gespenst aus den Kriegsberatungen, jemand, der frei ist, alles zu sagen, was er will, ungesagte Dinge, vertrauliche Dinge, loben, verdammen, faseln. Was immer Sie sagen, ist der Film, Sie sind der Film, Sie reden, ich drehe. Keine Diagramme, Landkarten, Hintergrundinformationen. Gesicht und Augen, schwarzweiß, das ist der Film.«
    Er sagte: »Up against the wall, motherfucker« , und warf mir einen scharfen Blick zu. »Nur dass die Sixties lange vorbei sind und es keine Barrikaden mehr gibt.«
    »Film ist die Barrikade«, erklärte ich ihm. »Die wir errichten, Sie und ich. Die, an der jemand steht und die Wahrheit sagt.«
    »Ich weiß nie, was ich sagen soll, wenn er so redet.«
    »Er hat sein Leben lang mit Studenten geredet«, sagte ich. »Er erwartet nicht, dass jemand etwas sagt.«
    »Jede Sekunde ist sein letzter Atemzug.«
    »Sitzt da und denkt nach, dazu ist er hier.«
    »Und dieser Film, den du machen willst.«
    »Kann’s nicht alleine.«
    »Aber gibt es keinen richtigen Film, den du lieber machen würdest? Weil wie viele Leute werden so viel Zeit damit verbringen wollen, sich so etwas Zombiehaftes anzusehen?«
    »Stimmt.«
    »Auch wenn er am Ende was Interessantes sagt, könnten die das doch auch in einer Zeitschrift lesen.«
    »Stimmt«, sagte ich.
    »Nicht dass ich oft ins Kino ginge. Ich mag alte Filme im Fernsehen, wo ein Mann einer Frau Feuer gibt. Mehr
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